Die Sternseherin
Estelle auch durchaus Sympathien für die Vampirin in Ashers Gedanken. Er machte keinen Hehl daraus. Sie wünschte, ihrer Neugier nicht nachgegeben zu haben. Eifersucht schnitt wie kaltes Eisen durch ihr Herz, als Nell näher kam und kokett seinen Arm berührte. »Du weißt, dass ich dir noch nie etwas abschlagen konnte!« Ihr Lachen klang wie das Gurren einer Taube, der eine gewisse Fee schon allein aus diesem Grund gerne das Gefieder gerupft hätte. Estelle bedankte sich trotzdem freundlich, mörderische Fantasien bemächtigten sich dessen ungeachtet ihrer Seele. Das Objekt ihrer Feinseligkeiten sah sie einen Moment durchdringend an, als ahnte Nell, was Estelle bewegte. Diese beschloss, ihre Schutzmechanismen für die Dauer des Aufenthaltes zu verstärken.
Nell schnippte mit den Fingern und verschwand im selben Moment. Sofort erschien Juliette, die ihnen bereits die Getränke serviert hatte, und bat die drei, ihr zu folgen. Erstaunt beobachtete Estelle, wie sie gegen ein Paneel in der Wand drückte und dieses lautlos beiseite schwang. Dahinter eröffnete sich ihnen eine märchenhafte Welt. Sie betraten eine Halle, an deren Ende die Stufen jedoch nicht, wie in einem Herrenhaus dieser Art üblich, nach oben, sondern hinab führten. Staunend blieb Estelle einen Moment lang am Geländer stehen und blickte in die Tiefe.
»Beeindruckend, nicht wahr?« Asher stand neben ihr. »Eleanor hat das Geld des Königs gut angelegt.«
»Kennst du sie schon länger?«
»Komm, wir müssen uns beeilen«, wich er ihrer Frage aus. Seite an Seite schritten sie die breite Treppe hinab, dicht hinter ihnen folgte Sara, die wirkte, als träume sie. Tatsächlich war das nicht ganz verkehrt, denn Asher hatte sie mit einem wirkungsvollen Zauber belegt, der verhinderte, dass sie in dieser beunruhigenden Situation die Nerven verlor. Estelle dagegen hatte kein magisches Beruhigungsmittel nötig. Sie nahm die Ereignisse der letzten Tage mit erstaunlicher Gelassenheit hin, fand Asher. Nichts anderes hatte er von ihr erwartet und doch wallte Stolz in ihm auf. Seine Fee war stark und besaß den Mut einer Löwin. Den würde sie allerdings auch in Zukunft benötigen. Er legt einen Arm um ihre Schultern und begann mit leiser Stimme zu erklären, dass der unterirdische Palast, in den sie hinabstiegen, das eigentliche Machtzentrum dieser Weltmetropole darstellte. Sie war geneigt, ihm zu glauben. Gemeinsam durchquerten sie eine mit Marmor ausgekleidete Säulenhalle. An den Wänden hingen riesige Gemälde und Leuchter verbreiteten ein unwirkliches Licht. Schließlich öffnete sich vor ihnen eine hohe, barocke Tür wie von Geisterhand und sie betraten einen schier endlos wirkenden Gang, der von zahllosen Türen flankiert war. »Es ist wie ein unterirdisches Versailles«, staunte Estelle und sah sich nach Sara um, die sich gar nicht sattsehen konnte an den prunkvollen Kandelabern, Malereien und Tapisserien. Eine weitere Tür öffnete sich und sie betraten ein barockes Schlafzimmer. Bis zum üppigen Himmelbett, das einer Königin würdig gewesen wäre, vermittelte die Einrichtung das Bild von Pracht und Reichtum.
»Gefällt es dir?«, fragte Asher.
»Es ist ... imposant.« Estelle strich über den dicken Samt der Bettvorhänge. »Aber ein bisschen schlichter wäre mir lieber! Ihr ...«, sie räusperte sich, »ihr habt einen deutlichen Hang zu pompösen Inszenierungen. Für eine einfache Studentin kann das etwas überwältigend sein. Ehrlich gesagt wäre ich jetzt lieber in meiner eigenen Wohnung.«
Asher teilte ihre Ansicht, allerdings wäre er überall gerne gewesen, sofern er dort mit Estelle zusammen sein konnte und dies möglichst ungestört.
Das Mädchen knickste. »Madame sagt, dieses Zimmer ist für die junge Lady. Dort ist das Bad«, sie zeigte auf eine schlichtere Tür, »und hier geht es zum Appartement.« Gegenüber befand sich ein weiterer Durchgang, der sich lautlos öffnete, als sie die Klinke herunterdrückte. Dieser Raum war zu Estelles Erleichterung modern eingerichtet und wirkte weitläufig. Sie atmete auf. An den Wänden sah sie gut gefüllte Bücherregale, es gab einen Kamin und mehrere Türen vermittelten den Eindruck, als befänden sie sich im zentralen Punkt einer Wohnung und nicht im Gästezimmer einer Vampirkönigin, die weit exzentrischer war, als Estelle das im ersten Augenblick für möglich gehalten hatte. Zumindest, wenn man sie noch ihrem Einrichtungsstil beurteilen wollte. Ein geheimer unterirdischer Palast –
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