Die Sternseherin
ihr das zerlesene Papier aus der Hand und faltete es behutsam auseinander. »Und deshalb warst du in Cambridge.« Wortlos gab er es an Asher weiter, der die Zeilen ebenfalls überflog.
»Ich habe angerufen und Professor Gralons Mitarbeiter, Mr. Barclay, schlug mir ein Treffen im Pub vor. Er hat abgestritten, dass mein Vater jemals Kontakt mit seinem Chef aufgenommen hätte, und behauptet, alles sei ein bedauerliches Missverständnis.« Sie griff nach dem Brief und hielt ihn Estelle unter die Nase. »Sieh doch! Hier steht es schwarz auf weiß: Gralon schuldete ihm Geld, und als er es einforderte, hat der Mörder ihn einfach umgebracht.«
Julen sprach ganz sanft. »Sara, nichts dergleichen steht dort.« Sie sah ihn an, als begreife sie seine Worte nicht. »Dein Vater schreibt, dass er dem Professor ein Geschäft vorgeschlagen hat. Er wusste etwas über ihn und wollte sich sein Schweigen bezahlen lassen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es sieht alles danach aus, dass er eine Erpressung plante.«
Sie schüttelte vehement ihren Kopf. »Nicht mein Vater, er würde so etwas niemals tun!«
»Du bist Anwältin und nicht auf den Kopf gefallen. Du weißt, dass ich recht habe.« Julen fasste ihre Hand. »Aber als einziges Kind deines Vaters wolltest du Gerechtigkeit für ihn und hast damit schlafende Löwen geweckt. Das versteht jeder von uns. Dieser Professor wird geglaubt haben, du wolltest ihn ebenfalls erpressen.«
»Mein Vater war ein ehrlicher Mann!« Sara sprang auf und rannte aus dem Raum. Estelle war im Nu hinter ihr her.
Bring sie zurück, sie darf dieses Pub nicht verlassen!, folgte ihr Ashers Stimme.
Sie fand Sara in einem dunklen Gang am Boden sitzend und bitterlich weinen. Estelle setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Wir werden herausfinden, was passiert ist«, versprach sie und hatte doch wenig Hoffnung, dass jemand den Detektiv entlasten könnte. Julen hatte bisher nicht den Eindruck erweckt, als würde er leichtfertig etwas behaupten, und sie vertraute dem Urteil der beiden erfahrenen Vampire mehr als dem einer liebenden Tochter. Behutsam versuchte sie, Saras Gedanken zu erkunden, und kam dieses Mal ein gutes Stück weiter. Was sie sah, machte ihr Angst. Die junge Frau hing an dem Bild, das sie sich im Laufe ihrer Kindheit vom Vater geschaffen hatte. Für sie war er der Held, der gute Papa, obwohl alles dafür sprach, dass der Mann wenig Interesse für Frau und Kind zeigte, nachdem er herausgefunden hatte, wer ihre Mutter war. Hier wurden die Erinnerungen undeutlich. Sara schien sich die Meinung ihres unwürdigen Erzeugers zu eigen gemacht zu haben. Sie war überzeugt, ihre Mutter habe eine große Schuld auf sich geladen und sei deshalb von ihrem Ehemann verlassen worden. Die tatsächlichen Geschehnisse hatte sie entweder tief in ihrem Inneren vergraben, oder sie wusste nichts davon. Estelle konnte nichts sehen als eine große Leere. Sie beschloss, bei nächster Gelegenheit mit Asher zu besprechen, wie sie der unglücklichen Feentochter helfen konnten. Jetzt aber musste sie die immer noch Weinende zurückbringen.
»Was haben wir denn da?« Eine männliche Stimme unterbrach ihre Überlegungen. Sie sprang erschrocken auf und zerrte auch Sara auf die Beine. In einem Vampirnest wie diesem war sie besser auf der Hut. Vor ihr stand Julen. Estelle hätte ihm trotz ihrer Erleichterung am liebsten eine Ohrfeige verpasst, um das unverschämte Grinsen aus seinem Gesicht zu entfernen. »Du hast wohl einen Schlag auf den Kopf bekommen? Mich so zu erschrecken!«, fuhr sie ihn an.
»Bitte?« Verwirrung zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Dann lachte er. »Ja, so etwas in der Art, kleine Fee!«, und fort war er.
Sie blinzelte ein paar Mal und sah sich suchend um. Aber natürlich hätte sie ihn nicht einmal gespürt, wenn er direkt über ihr unter der Decke gehangen hätte. Mit einem ängstlichen Blick nach oben fasste sie Saras Ärmel und zog sie einfach hinter sich her zurück zu Asher und – Julen. Die Tür fiel laut hinter ihr ins Schloss. Unsanfter als geplant stieß sie ihr Mitbringsel auf den nächstgelegenen Stuhl und ging auf den Vampir los. »Wenn du mir noch einmal so einen Schreck einjagst, dann kannst du was erleben!«
Er sah sie erstaunt an. »Bitte?«, imitierte er seinen eigenen Tonfall.
Sie zeigte zur Tür. »Was zum Teufel war das gerade für ein Auftritt dort draußen?«
»Was ist passiert?« Asher stand auf und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Estelle beruhige
Weitere Kostenlose Bücher