Die Sternseherin
gefüllte Tüte.
Estelle war ein wenig überrascht von Saras Gedankensprüngen. Sie begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Die mentalen Schutzwände der Feentochter waren hauchdünn und in ihrem Kopf herrschte ein größeres Durcheinander als während Alices Reise durch ihr Wunderland. Sie beschloss, vorerst mitzuspielen und später mit Asher zu sprechen. Da war es wieder – dieses Gefühl, dass die Dinge sich regelten, sobald er sich ihrer annahm. Wenn dies ein weiteres Zeichen für ihre angeblich schicksalhafte Zusammengehörigkeit war, dann wollte Estelle eine solche Abhängigkeit nicht. »Das sind deine Einkäufe«, beantwortete sie Saras Frage. »Und leider sind die schönen Kleider völlig zerknautscht. Komm, lass sie uns aufhängen, vielleicht kann man damit etwas retten.«
»Eigentlich komisch, ich habe noch nie von einem Pub namens ›Olde Nell’s Tavern‹ gehört.« Sara faltete eines der seidenen Hemden nun schon zum dritten Mal. Offenbar war sie nicht mit dem Ergebnis zufrieden, denn sie nahm es erneut auseinander und begann von vorn.
»Du willst mir nicht erzählen, dass du alle Londoner Pubs kennst!«
»Doch!« Sara lachte spitzbübisch. »Okay, während des Studiums habe ich für ein Marketingunternehmen gearbeitet, das eine Untersuchung über die Londoner Gastronomie machte. Dafür musste ich unter anderem eine Liste durchgehen, auf der alle Namen und Adressen von Pubs verzeichnet waren. Ich habe ein recht gutes Gedächtnis und sage dir, dieses war nicht dabei.«
»Vielleicht ist es neu?«
»Möglich, aber weißt du, was das Verblüffende ist? Die Inhaberin sieht wirklich ein wenig aus wie Eleanor Gwynn.«
»Und wer soll das sein, eine Schauspielerin?« Estelle fand, das wäre ein passender Beruf für diese verschlagene Person, die sich ihr gegenüber so freundlich verhalten hatte, bloß um im nächsten Moment Asher zu umgarnen. Und der Lump hatte sich nicht einmal gewehrt! Die Tränen begannen schon wieder ihren Blick zu trüben und sie wischte sich unauffällig mit dem Handrücken über die Augen.
Sara schien nichts zu bemerken. »Schauspielerin war sie tatsächlich, aber bekannt ist sie als Kurtisane geworden und als Charles’ Mätresse.«
»Ich dachte, der hat Camilla, seine Dauergeliebte, geheiratet.«
»Du meinst den Herzog von Wales? Nein, natürlich nicht der Charles. Sie hat sich König Charles II. geangelt.«
Estelle kramte in ihren Erinnerungen an die britische Geschichte. »Das ist aber schon eine ganze Weile her«, meinte sie schließlich. Unsicher, wie lange dessen Regentschaft genau zurücklag, nahm sie Sara das malträtierte Hemd aus der Hand und legte es zu der restlichen Wäsche. »Es ist völlig in Ordnung so. Du bist nervös. Komm, ich gebe dir ein Spezial-Hausmittel, das beruhigt und lässt dich bestimmt gut schlafen.« Alkohol war gewiss nicht das richtige Mittel, um Ordnung in ihren Kopf zu bekommen, aber ihr fiel so schnell nichts ein, was sie sonst hätte tun können, um Sara zu beruhigen. Die junge Frau hatte angesichts der gut sortierten Bar mächtig gestaunt und ihr erzählt, dass sie nie etwas Stärkeres als ein Bier getrunken hatte, und selbst dieses Erlebnis hatte sie niemals wiederholt, weil sie sich vor dem bitteren Gebräu geradezu ekelte. Das hatte Estelle auf die Idee gebracht. Kein Bier natürlich, etwas anderes musste es sein. Einen Versuch war es wert. Sie füllte zwei schwere Gläser mit schottischem Single Malt und reichte Sara eines.
Sie schnupperte daran und verzog ihr Gesicht. »Das ist aber voll, sollte man nicht Wasser dazugeben?«
»Dann wird es ja noch mehr. Du musst alles auf einmal trinken, sonst wirkt es nicht.« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, trank Estelle ihr Glas in einem Zug aus. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen und sie wandte sich rasch ab – aus Angst, sie würde den scharfen Schnaps gleich wieder über Saras Schuhe spucken. Die Warnung, es ihr nicht nachzumachen, verkam zu einem kaum hörbaren Krächzen. Durch ihr Schweigen offenbar ermutigt, stürzte Sara die goldgelbe Flüssigkeit ebenfalls hinunter und bekam sofort einen Hustenanfall.
Estelle sah sie erst hilflos an, dann stellte sie sich vor, wie vampirische Retter der betrunkenen Fee zu Hilfe eilen würden, musste lachen und bekam einen Schluckauf. Sie hielt sich die Nase zu und hielt die Luft an, so wie sie es gelernt hatte. Der Hals wurde ihr trocken, aber der Schluckauf war fort und sie näselte: »Soll ich Hilfe rufen?« Dies war glücklicherweise
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