Die Sternseherin
vor dem Kamin, als jemand an ihre Tür klopfte. Estelle dachte, dass es etwas früh wäre, um schon ihr Gepäck aus dem Hotel in Cambridge zu erwarten, aber für Vampire definierte sich der Zeitbegriff in einer anderen Qualität. Also öffnete sie und nahm eine große, aber ziemlich ramponierte Einkaufstüte entgegen. Sie sah hinein und stellte fest, dass jemand Saras nachmittägliche Einkäufe lieblos hineingestopft hatte. Obenauf lag ein schmutziges Paar Stiefel. Asher! Mächtige Alpha-Vampire unterschieden sich augenscheinlich wenig von sterblichen Männern, wenn es um Kleidung ging. Die meisten hatten einfach keinen Sinn für edle Stoffe, es sei denn, sie schmückten eine schöne Frau und waren im passenden Moment leicht auszuziehen. Der Playboy vor ihrer Tür gehörte bestimmt in die gleiche Kategorie, auch wenn er sich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck bemühte. Er sah nicht aus wie der Typ »Trinkgeldempfänger«, sondern wirkte trotz aller Lässigkeit ziemlich wichtig. Also behielt sie ihre Münzen in der Tasche und fragte stattdessen, ob Asher zurückgekehrt sei. Dem sei so, bestätigte er, und dass er ihr gerne zeigen könne, wo dieser sich aufhalte. Estelle folgte ihm zurück in die Halle, die sie schon kannte, und durch eine andere Tür, die in einen modern gestalteten Gang führte. Die unterschiedlichen Baustile dieser unterirdischen Anlage irritierten sie ein wenig. Bei genauerer Überlegung war es aber nicht weiter verwunderlich, ein verborgener Palast wie dieser entstand nicht in wenigen Monaten oder Jahren, sondern war ganz sicher über Jahrhunderte gewachsen. Der Vampir ging weiter voran, sie durchschritten mehrere Türen, einige davon aus Stahl, und der Gedanke an ein Labyrinth drängte sich ihr auf, als er endlich haltmachte.
»Diese Tür führt direkt in Nells Nachtclub«, erklärte er, und dass dieser ein beliebter Treffpunkt der Londoner Partyszene sowie des dunkleren Publikums der Stadt sei. »In unserem Club ist jeder Besucher absolut sicher. Wir überwachen jeden Winkel, damit es nicht zu unerwünschten Zwischenfällen kommt. Er wies in einen Raum, der wie die Schaltzentrale der Londoner Verkehrsbetriebe wirkte. Die Tür stand offen und Estelle sah mehrere Männer vor zahllosen Monitoren sitzen, die sie nur kurz aus den Augen ließen, um ihren Begleiter ehrerbietig zu begrüßen. Weiter hinten gab es noch ganz andere Ansichten zu bewundern und Estelle fragte sich, ob ihre Zimmer möglicherweise auch überwacht wurden. Sie wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als sie Asher entdeckte. Nicht auf einem der Monitore, sondern zum Greifen nah durch eine riesige Scheibe direkt vor ihr.
»Das Fenster ist von der anderen Seite verspiegelt.« Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. »So weiß man gleich, was einen erwartet.« Estelle hörte ihm nicht mehr zu, und als Nell und Asher sich küssten, machte sie wortlos auf dem Absatz kehrt. Der eigentümliche Ausdruck auf dem ebenmäßigen Gesicht des Playboy-Vampirs gab ihr den Rest. Mit eiserner Disziplin hielt sie ihre Tränen zurück und ging hoch erhobenen Hauptes, anstatt, wie sie es am liebsten getan hätte, schluchzend in ihr Zimmer zu rennen. Die ganze Angelegenheit war sowieso schon demütigend genug. Ihre Selbstbeherrschung reichte genau bis ins Schlafzimmer ihres Appartements, dann flossen die Tränen. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr herum. Sara war lautlos hereingekommen und kniete nun hinter ihr auf dem riesigen Bett. »Was ist passiert?«
Estelle nahm sich zusammen. Erstens wollte sie nicht über ihre Beobachtungen sprechen, und zweitens war sie sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht in eine Inszenierung gelaufen war. Im Nachhinein mochte sie nicht mehr so recht an eine zufällige Entdeckung glauben. Das änderte allerdings nichts an dem, was sie gesehen hatte. Sie bemühte sich um eine Erklärung. »Das ist bestimmt der Schock. Was heute passiert ist – ich glaube, das war etwas viel für mich.« Sie griff nach Saras Hand. »Wie schrecklich muss dir dies alles vorkommen!«
»Schon in Ordnung. Dieser Tag war der aufregendste in meinem ganzen Leben und ich möchte keine Minute davon missen – auch wenn es morgen in der Firma sicher schrecklichen Ärger geben wird, weil ich die Unterlagen nicht rechtzeitig vorbereitet habe.«
»Du kannst morgen nicht ins Büro gehen.«
»Kann ich nicht? Oh, auch gut. Weißt du, ob das meine Sachen sind?« Sie zeigte auf die prall
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