Die Sternseherin
mörderische Blutlust wieder unter Kontrolle. Er ignorierte Julen, bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck und wandte sich der verängstigten Frau zu. Allmählich entspannten sich Saras Züge, bis sie sogar ein scheues Lächeln versuchte. Innerlich seufzte Asher und sagte mit einer Stimme, die nichts von seiner Anspannung verriet: »Du musst uns alles erzählen. Jedes Detail könnte wichtig sein.«
Sara wischte sich eine Träne fort und schien nun wieder völlig klar zu sein: »Manon hat Estelles Handy mitgebracht. Sie ist nach nebenan gegangen, um die Nachrichten abzuhören. Als sie zurückkam, war sie ganz aufgeregt. Ich glaube, Estelle hat geweint. Und dann ist sie rausgelaufen. Manon hat gesagt, sie wolle sich melden, sobald sie die Gelegenheit dazu hat.«
Julen umschloss ihre Hände mit seinen sehnigen Fingern. Ohne sich abzustimmen verzichteten beide Vampire darauf, gewaltsam in ihre Gedanken einzudringen. In ihrem Zustand hätte der Kontakt mit einem von ihnen bereits dazu führen können, ihre mentale Gesundheit für immer zu ruinieren. »Kannst du dich an noch etwas erinnern?« Sie schüttelte den Kopf und Asher öffnete schon seinen Mund, um die Befragung fortzuführen, da sah ihn Julen bittend an. Der Vampir schwieg, vielleicht funktionierte Julens Methode besser. Der junge Vengador setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. Sanft streichelte er ihre Hände. Er versuchte es noch einmal. »Sicher hast du noch etwas anderes beobachtet!«
Sie legte ihren Kopf schräg. »Sie hat etwas von einem Zug gesagt.«
»Der Eurostar!« Julen gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange.
»Mit einem Zug von London nach Paris?« Asher klang ungläubig.
»Mann, du hast aber wirklich lang und fest geschlafen! Seit ein paar Jahren verkehrt ein Zug unter dem Ärmelkanal zwischen London, Paris oder Brüssel. Julen zog sein Handy aus der Tasche. »Das ist jetzt wichtig, Sara. Kannst du dich erinnern, wann die beiden aufgebrochen sind?«
»Gegen sechs Uhr, glaube ich«, erwiderte sie unsicher.
»Moment, hier sind die Abfahrtzeiten«, er sah auf sein Display. »Das kommt hin. Jetzt haben wir vier Uhr morgens. Mit etwas Glück haben sie sich entschlossen, in Paris zu übernachten.« Er sah Asher erwartungsvoll an.
»Ich gehe allein, du bleibst bei Sara!« Ashers Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Ich habe sie da hineingeritten, ich hole sie auch wieder raus! Sara, Liebes, das verstehst du doch?«
Die Fee nickte. »Natürlich!«
Julen schenkte ihr ein warmes Lächeln, dann wandte er sich Asher zu. »Und außerdem gibt es etwas, was du noch nicht weißt. Das Hauptquartier der Entführer befindet sich in Frankreich und ich habe eine recht gute Vorstellung davon, wo die verschleppten Streuner gefangen gehalten werden.« In knappen Worten berichtete er von seinen Entdeckungen in Cambridge. Den unglücklichen Ausgang seiner Nachforschungen verschwieg er allerdings. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte er, wenn ihn nicht alles täuschte, einige Monate in einem französischen Schloss verbracht und glaubte sich zu erinnern, dass der damalige Hausherr sich mit schwarzer Magie befasst hatte. Augenscheinlich führten seine Nachfahren das Erbe fort.
Asher sah Sara tief in die Augen. »Du möchtest dich ausruhen!«, flüsterte er. »Sprich mit niemandem ein Wort, wir sind bald zurück!« Die Feentochter fiel in einen tiefen Schlaf und Julen trug sie in ihr Zimmer, wo er sie behutsam auf ihrem Bett ablegte und zudeckte. Er hatte wahrlich Lust, mit Asher zu streiten, doch sagte stattdessen nur: »Wenn ihr etwas geschieht, bist du dafür verantwortlich!«
Asher lächelte kalt. »Wie du willst! Und nun komm schon!« Damit trat er in die Zwischenwelt ein. Julen folgte ihm auf den Fuß. An manchen Tagen gab diese Dimension sich das Antlitz einer lieblichen Sommerlandschaft, manchmal zeigte sie sich eisiger als eine Polarnacht und heute glich sie einsamen Moorlandschaften. Feiner Nebel stieg auf und verhüllte den sicheren Pfad, auf dem die Vampire Richtung Süden eilten. Seite an Seite durchquerten sie diesen trügerischen Sumpf, der Reisende zwischen den Dimensionen in seine Untiefen zu locken suchte. Nach einer Weile begann Julen die Taktik des erfahrenen Vampirs zu schätzen, mit der es ihm gelang, magische Fallgruben und Fußangeln zu umgehen, um schneller voranzukommen. Dann öffnete sich die dünne Trennwand zwischen den Dimensionen und unter ihnen erstreckte sich die französische Metropole. Sie materialisierten sich
Weitere Kostenlose Bücher