Die Sternseherin
in einer dunklen Ecke des Gare Du Nord. Der Pariser Bahnhof war längst geschlossen und unbeobachtet begannen sie, nach Spuren der beiden Frauen zu suchen. Am Bahnsteig des Eurostars verharrte Asher in seiner Bewegung. »Sie waren hier.«
Julen erkannte die typische Signatur von Estelle und einer zweiten Fee. »Manon ist auch eine Lichtelfe?« Er erwartete gar keine Antwort und ärgerte sich, dass ihm dieses wahrlich nicht so unwichtige Detail bei ihren vorangegangenen Begegnungen entgangen war.. Jetzt allerdings bestand überhaupt kein Zweifel, und zumindest Manons Spur leuchtete geradezu in der Dunkelheit, als wollte sie ihnen die Verfolgung erleichtern. An einem Taxistand endete ihr Glück. Frustriert fuhr er sich durch die Haare. »Wenn Estelle wirklich deine Seelengefährtin ist, dann müsstest du doch wissen, wo sie sich jetzt aufhält!«
Ashers Reaktion hätte einen Sterblichen getötet. Julen kam es vor, als habe ein tonnenschwerer Rammbock sein Brustbein getroffen; er taumelte, richtete sich aber rasch wieder auf. »Ich wollte dich nicht beleidigen!«
»Das kannst du nicht. Estelle verfügt über außerordentliche Kräfte und es sieht so aus, als wäre sie nun in der Lage, davon Gebrauch zu machen.«
»Du meinst, sie hat das Gröbste hinter sich?«
Asher blieb so abrupt stehen, dass Julen ihn fast angerempelt hätte. Körperlicher Kontakt mit einem magischen Wesen, das sich derzeit wenig von einem wütenden Dämon unterschied, schien ihm nicht angeraten. Und dann war da ja noch seine Abneigung, Männer überhaupt zu berühren. Besagtes Wesen jedenfalls hatte sich besser im Griff, als er selbst. Asher klang fast normal, als er antwortete: »Ich fürchte, sie hat es noch vor sich. Offenbar ist dir nicht entgangen, dass Estelle sich mitten in der Transformation befindet. Ich verlasse mich auf deine Diskretion.«
Diese Feststellung klang in Julens Ohren fürchterlicher als jede Drohung. Glücklicherweise hatte er ohnehin nicht die Absicht, Estelles physischen Zustand zu thematisieren und lenkte ab: »Was jetzt?«
Ashers Lippen formten lautlos ihren Namen. Wo bist du? Nichts. Nur ein schwaches Echo seines Rufs antwortete ihm.
Estelle fühlte seinen Ärger wie einen dumpfen Schmerz in ihrem Kopf. Für einen Moment war sie versucht, ihm zu antworten. Sie umklammerte das Lenkrad fester und trat das Gaspedal durch. Ihr wenig komfortables Fahrzeug entfernte sich stetig von Paris, wenn auch längst nicht so schnell, wie Estelle gehofft hatte. Der Renault hustete und spuckte, wann immer sie die Gänge auf ihrer Fahrt in die französische Provinz wechselte, aber mehr war mit Bargeld nicht zu bekommen gewesen, hatten sie bald nach ihrer Ankunft feststellen müssen. Vor ihrer Abreise aus London hatten beide Feen dem Geldautomaten am Bahnhof so viele Scheine wie möglich entlockt. Estelle bestand darauf, weil sie wusste, dass jede Buchung auf ihren Konten zurückverfolgt und damit ein brauchbares Bewegungsprofil erstellen werden konnte. Der Franzose am Autoverleih wollte ihnen anfangs überhaupt kein Auto ohne die Sicherheit einer Kreditkarte geben. Mit ein wenig mentaler Hilfe und gegen eine exorbitante Summe erklärte er sich immerhin bereit, ihnen diese Schrottschüssel zu überlassen. Der Tank war fast leer und Estelle vermutete, dass sie im Privatwagen des Mannes saßen. Doch das war ihr egal. Hauptsache, Asher verlor ihre Spur – zumindest vorübergehend. Sie nahm sich vor, nachts nicht zu schlafen. Träume konnten scheußlich verräterisch sein. Ein Ortsschild tauchte auf. Laval, also nur noch kapp zwei Stunden Fahrt bis zum Ziel, behauptete jedenfalls die gleichbleibend freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät.
Estelle konnte den exakten Moment spüren, als die Sonne ihr Haupt erhob und über den Horizont blickte. Vor ihr verschwommen die Begrenzungslinien der Fahrbahn. Nachdem Manon zum dritten Mal ins Steuer gegriffen hatte, um Schlimmeres zu verhindern, bestand sie auf einen Fahrerwechsel. »Wie heißt das Hotel, in dem du reserviert hast?« Schwungvoll verließ sie den kleinen Parkplatz bei Paimpont und gab couragiert Gas. Vielleicht hätte sie erwähnen sollen, dass sie zuletzt 1956 einen Wagen gesteuert hatte, aber der Moment für derartige Geständnisse erschien ihr irgendwie unpassend.
Estelle nuschelte schläfrig: »Es heißt ›Le Relais de Brocéliande‹«
Gerne hätte Manon Asher einen Fluch angehängt. Sie machte den Vampir dafür verantwortlich, dass ihre Freundin ihm nicht
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