Die Sternseherin
und kurz darauf fand Manon ihre Mitbewohnerin in unveränderter Haltung in der unbeleuchteten Küche.
»Was hat er dir angetan!« Sie ließ ihre Tasche fallen und kniete sich vor Estelle auf den Boden.
»Nichts«, beeilte sie sich zu antworten, als sie das mordlustige Glitzern in Manons Augen sah. »Julen hat mich nur nach Hause gebracht. Er hat mir sogar seinen Mantel gegeben wie ein echter Gentleman, und als wir vor der Tür waren ...« Sie stockte.
»Ja?«
»... wollte er mich küssen.«
Manon sah sie erwartungsvoll an.
»Mir gefiel die Idee. Ausgesprochen gut sogar.« Der Nachsatz entlockte der Freundin ein erstes Lächeln. Sie streichelte Estelles Hände, was eine merkwürdige Ruhe in ihr auslöste. Eine Weile saßen beide ganz still da, bis Manon sagte: »Aber das kann doch nicht so schlimm gewesen sein?«
»War es auch nicht, höchstens, dass es gar keinen Kuss gab.«
»Höre ich da eine gewisse Enttäuschung?«
Estelle ging nicht auf den neckenden Ton ihrer Freundin ein. »Plötzlich waren wir nicht mehr allein. Julen muss es auch gespürt haben. Er wurde ganz merkwürdig, schickte mich hinein und war schon verschwunden, bevor ich die zweite Etage erreicht hatte. Ich habe aus dem Fenster gesehen«, gab sie zu.
»Das war alles?« Manon ging zum Herd und setzte Teewasser auf. »Ich hätte dir sagen sollen, dass sich nachts manchmal Leute in die Höfe verirren für, du weißt schon, eine schnelle Nummer oder so. Normalerweise passiert das allerdings eher während der Festwochen im August und nicht im Spätherbst. Na ja, es ist noch warm. Kein Grund zur Panik.«
»Du verstehst nicht. Da war nicht nur einfach jemand im Hof! Es fühlte sich an, als würde ein gefährliches Raubtier auf mich lauern.«
Manon drehte sich zu ihr um. »Raubtier, ja?«
Nach einem Blick in das Gesicht ihrer Mitbewohnerin verzichtete Estelle darauf, ihre Ängste ausführlicher zu beschreiben. Worte konnten ohnehin nicht annähernd widergeben, was sie in dem Wesen noch gefühlt hatte. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, so groß, dass ihre eigene Furcht daneben verblasste. »Wahrscheinlich sind meine Nerven einfach mit mir durchgegangen.«
Manon erwiderte ihr Lächeln und brühte frischen Tee auf. Während sie reichlich Zucker in beide Tassen löffelte, sagte sie über die Schulter zu Estelle: »Dein Verehrer taucht sicher bald wieder auf! Man müsste ja blind sein, um nicht zu sehen, dass er ganz verrückt nach dir ist!«
IV
Zwei Wochen später musste Manon zugeben, sich geirrt zu haben. Gemeinsam mit Estelle saß sie am späten Nachmittag in der Teestube gegenüber der Nationalbibliothek. Manon kam direkt aus dem Altersheim, wo sie als Pflegerin tätig war, Estelle hatte sich aus einer Vorlesung geschlichen. »Wo ist eigentlich Ben?«
Sie hatte Ben an ihrem ersten Abend im Pub kennengelernt. Auf der Suche nach dem Sekretariat in ihrer neuen Universität war sie ihm wieder begegnet und die beiden stellten erfreut fest, dass sie einige gemeinsame Vorlesungen belegt hatten. Er war sehr hilfsbereit und hatte sie herumgeführt. Seitdem stieß er häufiger zu ihnen, wenn sie sich hier trafen. Ben mochte die Freundinnen gern, sein wahres Interesse allerdings galt den männlichen Kommilitonen. Er machte kein großes Geheimnis daraus, obwohl seine Familie diesen Teil seines Lebens einfach totschwieg. Diese Informationen hatte Estelle ihm entlockt, während er neben ihr in der Vorlesung saß. Was das Lesen ihrer Mitmenschen betraf, so machte sie deutliche Fortschritte. Die neue Umgebung tat ihr gut und bisher hatte sie keinen dramatischen Anfall mehr gehabt. Gelegentlich plagten sie Albträume, und Menschenmengen mied sie schon aus Prinzip, aber eigentlich ging es ihr recht gut. Vermutlich sollte sie dem Vampir für seine Entscheidung, sie hierher zu verfrachten, dankbar sein. Aber so viel Großmut brachte Estelle nicht auf. Immerhin gestand sie sich diese Charakterschwäche in stillen Stunden ein.
»Jemand zu Hause?«
Manon fuchtelte vor ihrem Gesicht herum und Estelle beeilte sich, der Serviererin zu erklären, dass sie keinen weiteren Tee wünschte. »Ich weiß nicht, wo Ben ist. Die Vorlesungen hat er auch geschwänzt.« Beide wussten, dass er für sein Leben gern segelte. Ben stammte aus vermögendem Hause und nutzte jede Gelegenheit, um auf das Meer hinauszufahren.
»Das ist es! Bald wird es zu stürmisch zum Segeln sein, dann beginnt wieder die große Leidenszeit für unseren Freund«, lachte Manon und schien
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