Die Sternseherin
ließ sie ihre Tüten fallen und stieß dabei auch noch einen Stapel Bücher um. Ein Klirren ließ nichts Gutes vermuten. »Mist!« Schnell bückte sie sich, um zu verhindern, dass der auslaufende Wein die Bücher durchtränkte. Irgendwo rumorte es, aber ehe sie herausfinden konnte, wer sich hinter den Regalen zu schaffen machte, stand der Besitzer schon vor ihr. »Was tun Sie da?« Jedenfalls nahm sie an, dass es der Inhaber war, der sie erst mit deutlicher Ungeduld, dann ziemlich überrascht und schließlich völlig ausdruckslos anstarrte. Sie teilte seine Verwunderung, denn anstelle des zauseligen Alten, mit dem sie gerechnet hatte, sah sie an einem Mittdreißiger hinauf. Natürlich, Manon hatte etwas in dieser Art erwähnt. Zur Jeans trug er einen dunklen Pullover der schon bessere Tage gesehen hatte. Dem Material nach zu urteilen dürfte er aber einmal ziemlich teuer gewesen sein. Dank ihrer Erfahrungen in der französischen Modewelt hatte Estelle inzwischen einen Blick für solche Details entwickelt. Sie ließ sich deshalb auch nicht vom Dreitagebart oder dem ungekämmten Schopf ihres Gegenübers täuschen. Der Mann war keineswegs verwahrlost, sondern nur ein wenig, wie sollte sie es nennen, nachlässig in seinem Äußeren. Eine Brille hätte gut zum Gesamtbild des schusseligen Antiquars gepasst, aber die dunkelblauen Augen schienen keiner Sehhilfe zu bedürfen, während sie von oben herab ihre Musterung erwiderten. Endlich schien er aus seiner Starre zu erwachen, nahm ihr die Folianten aus der Hand und legte sie behutsam auf die Ladentheke zurück. Estelle sprang auf. »Es tut mir leid«, stammelte sie. »Wenn Sie vielleicht ein Tuch hätten?«
Er griff in die Hosentasche, zog ein gefaltetes Herrentaschentuch hervor und reichte es ihr.
Ratlos blickte sie auf das feine Leinen in ihrer Hand, bis es ihr dämmerte, dass er dachte, sie habe das Tuch für sich gewollt. »Nein, ich brauche einen Wischlappen und vielleicht etwas warmes Wasser. Sie wollen doch sicher nicht, dass es hier tagelang wie in einer Kneipe stinkt.«
»Natürlich.« Der Hauch eines Lächelns ließ ihn jünger erscheinen, und sie revidierte ihre Schätzung nochmal um ein paar Jahre. »Irgendwo muss es in einem ordentlichen Laden so etwas geben, nicht wahr?«
Estelle sah sich dabei suchend um.
»Warten Sie, ich werde mich darum kümmern.« Er zögerte. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Diese 180-Grad-Wendung verblüffte Estelle, trotzdem folgte sie seiner Aufforderung und setzte sich vorsichtig auf die Kante eines abgewetzten Ledersessels. Sie sah ihm nach, als er geschickt einem Stapel Bücher auswich, bevor ihn die Dunkelheit verschluckte, die immer noch zwischen den Regalen hing, fast so, als wollten sie ihre wertvolle Last vor neugierigen Augen verbergen.
Meine Fantasie geht offenbar mit mir durch! Estelle wandte ihren Blick ab und sah direkt in die starren Augen einer Eule. Okay, sicher nicht meine Schuld, dass ich anfange, Gespenster zu sehen! Doch das Tier musste ausgestopft sein, beruhigte sie sich, so still saß nicht einmal ein nächtlicher Räuber wie dieser. Zumindest hoffte sie dies.
Überraschend schnell kam der Mann mit einem Tablett zurück, das er ihr mit einer Entschuldigung in die Hände drückte, um die Weinpfütze aufzuwischen. Er bewegte sich lautlos und sprach kein Wort. Die Stille begann, an ihren Nerven zu zerren. Estelle fühlte sich ungewohnt schüchtern und wusste nichts zu sagen. Steif saß sie da, das Tablett in den Händen, und wartete, bis er genügend Bücher von einem runden Tischchen geräumt und ausreichend Raum für zwei Tassen und eine dampfende Teekanne geschaffen hatte. Erwartungsvoll blickte der Buchhändler sie an und Estelle wurde klar, dass er von ihr erwartete, dass sie den Tee einschenkte. Wie altmodisch! Gespannt drauf, was noch kommen würde, beschloss sie mitzuspielen: »Nehmen Sie Sahne, Zucker?«
»Nein, danke.« Er schaute sich abwesend um, als suchte er etwas und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Wie Sie wünschen«, sagte Estelle. Das Porzellan war alt und möglicherweise nicht weniger wertvoll als einige der Bücher. Geschickt goss sie das Gebräu durch ein silbernes Sieb in eine fast durchsichtige Tasse, die sie ihm vorsichtig reichte.
»Vielen Dank. Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine weitere Erfrischung anbieten kann«, antwortete er völlig ernsthaft.
»Ich bitte Sie, das macht doch nichts.« Die letzten Worte klangen gepresst, weil sie nur mühsam ein Kichern
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