Die Sternseherin
ihn bereits vergessen zu haben, als sie fortfuhr: »Stell dir mal vor, was ich heute gehört habe! Es soll ein Mittel auf den Markt kommen, das den Alterungsprozess aufhält.«
»Anti-Aging meinst du wahrscheinlich. Hormonbehandlung und Schönheits-OPs.«
»Ach was! Das kennt ja jeder. Aber weißt du, in unserer Seniorenresidenz wohnt doch diese alte Lady.«
»Du meinst die Verrückte, die sich ihre Haare jede Woche in einer anderen Farbe tönen lässt.«
»Verrückt fand ich sie bisher nicht, höchstens ein wenig exzentrisch.« Manon schmunzelte. »Momentan sieht sie aus, als hätte sie eine Portion rosa Zuckerwatte auf dem Kopf. Aber jetzt fängt sie wirklich zu spinnen an. Sie schwört Stein und Bein, dass sie bald wieder jung und schön sein wird.«
»Das hätte sie wohl gerne, sie ist sicher schon ein wenig verdreht. Hast du nicht erzählt, sie hätten im vergangenen Jahr ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert?«
»Den Fünfundachtzigsten sogar, aber ich weiß nicht, bisher fand ich sie recht fit für ihr Alter. Seit letzter Woche, so habe ich es gehört, soll sie jeden Abend ein Arzt besuchen, der ihr Injektionen verpasst.« Nun senkte sie ihre Stimme. »Und weißt du was? Sie kommt mir schon irgendwie jünger vor! Aber ein wenig gruselig finde ich, dass sie ihre Steaks neuerdings nur noch blutig mag. Gestern soll sie sogar einen Kollegen in die Hand gebissen haben. Ist das nicht irre? Womöglich ist sie eine Vampirprinzessin.«
»Jetzt übertreibst du aber!« Estelle wurde ungemütlich zumute. Was, wenn tatsächlich jemand auf der Suche nach dem »ewigen Leben« erfolgreich gewesen war? Wie auch immer, sie musste Manon beruhigen. »Rohes Fleisch, also wirklich! Wenn überhaupt, dann ist sie in die Hände eines Vampirs gefallen. Eines sehr menschlichen allerdings, ich wette, dass es da jemand auf ihr Geld abgesehen hat.«
»Du hast recht, manchmal geht die Fantasie einfach mit mir durch! Aber dieser Arzt ist doch wirklich unheimlich, oder?«
»Hast du ihn denn schon einmal selbst gesehen?«
»Wie denn? Ich habe seit Wochen Tagdienst.« Manons Lächeln wirkte etwas gekünstelt, und Estelle fragte sich nicht zum ersten Mal, was unter dem rot gefärbten Schopf ihrer Freundin wirklich vor sich ging. Natürlich hätte sie sie lesen können, aber so etwas tat man unter Freunden nicht, und außerdem gehörte sie zu den wenigen Sterblichen, die ihre Gedanken meist für sich behielten und nicht ungewollt in die Welt hinaussandten.
Wenig später brachen die beiden auf. Draußen sank die Sonne gerade hinter den Horizont und ihre Strahlen tauchten die Felsenburg in gespenstisches Rot. Ein seltenes Schauspiel, denn oft hing der Himmel bleiern über der Stadt, während ein Regenschauer dem nächsten folgte. Manon beschloss, diese Gelegenheit zu nutzen. Sie fand immer einen Vorwand, um einzukaufen. Estelle, die keine Lust zum Bummeln hatte, versprach, auf dem Heimweg noch ein paar Besorgungen im indischen Supermarkt zu erledigen. Zu ihrem Bedauern war von dem eifrigen Tütenträger nichts zu sehen, lediglich seine Mutter hockte gewohnt missmutig hinter der Kasse. Also nahm sie anstelle der Wasserflaschen nur Manons Lieblingswein mit und stapfte schwer beladen die Anhöhe zu ihrer Wohnung hinauf. Wie jeden Tag blieb sie vor der verwaisten Buchhandlung stehen und schaute sehnsüchtig durch die fast blinden Scheiben. Anders als die Male vorher bemerkte sie eine Bewegung im Inneren. Aufgeregt lief sie zum Eingang. Der Zettel, auf dem jemand mit eleganter Handschrift »Geschlossen« notiert hatte, war verschwunden. »Endlich!« Estelle drückte die Klinke herunter. Nichts geschah. »Ich weiß genau, dass jemand da ist!« Sie griff fester zu und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Das Holz knarrte und gab dann so plötzlich nach, dass Estelle sich gerade noch fangen konnte, um nicht mitsamt ihrer Einkäufe hineinzusegeln. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, fiel ihr der geheimnisvolle Bannspruch wieder ein. Auf alles gefasst, machte sie einen Schritt nach vorn, aber der Zauber schien nicht mehr auszulösen als ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, während sie die Schwelle überschritt. Und das konnte genauso gut ein Zeichen von Aufregung sein. Ein feines Klingeln ertönte und sie stand mitten im Laden.
»Hallo?«
Es war so dunkel, dass sie kaum das Ende der vollgestopften Bücherregale erkennen konnte. Sie ging vorsichtig weiter. Etwas Weiches berührte dabei ihre Schulter, und vor Schreck
Weitere Kostenlose Bücher