Die Sternseherin
unterdrücken konnte. Die Situation war einfach zu merkwürdig. Estelle knetete das geliehene Taschentuch, um nicht laut loszulachen. Als sie seine konsternierte Miene sah, bemühte sie sich um Haltung. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen solche Umstände bereite. Ich bin übrigens Estelle. Als ich sah, dass heute geöffnet ist, konnte ich nicht widerstehen. Ich musste einfach hereinkommen – trotz des Abwehrzaubers.« Erschrocken presste sie das Taschentuch auf ihre Lippen. Welcher Teufel hatte sie geritten, die magischen Ornamente am Eingang zu erwähnen? Wahrscheinlich befanden sie sich schon ewig dort und er hatte er keine Ahnung, was diese Zeichen bedeuteten. Wahrscheinlich wunderte er sich sogar, so wenige Kunden zu haben.
Sein Mundwinkel zuckte, während er sie einen Moment lang durchdringend ansah. Er überging ihre Bemerkung und stellte sich vor: »Mein Name ist – die meisten Leute nennen mich Asher.«
Ihr war das kurze Zögern keineswegs entgangen. Noch mehr erstaunte sie allerdings seine fehlende Reaktion auf ihre Bemerkung über den Abwehrzauber. Schon wollte sie ihre Gedanken aussenden, um mehr über diesen eigenartigen Mann zu erfahren, da trafen sich erneut ihre Blicke und sie hatte plötzlich die Befürchtung, dass sie nicht mögen würde, was immer sich hinter seiner freundlichen Fassade verbarg. Hastig leerte sie ihre Tasse und stand auf. »Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Herr, ähm, Asher.« Sie reichte ihm nicht ihre Hand, raffte die Einkäufe zusammen und eilte zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und murmelte »Tschüss!«. »Auf Wiedersehen« schien ihr plötzlich nicht wünschenswert zu sein. Sie floh hinaus in die klare Abendluft.
Erst zu Hause fiel ihr auf, dass sie kein einziges der Bücher näher betrachtet hatte, und der Wein für das gemeinsame Abendessen mit Manon fehlte ihr auch. Pasta schmeckt mit Wasser ebenso gut, dachte sie und begann, das Gemüse zu schneiden.
»Wie lecker es hier duftet!« Manon ließ ihre Tasche achtlos fallen und hob einen Topfdeckel. »Mhm, das sieht köstlich aus. Warte, ich muss nur schnell meine Hände waschen.«
Während sie einen vollen Teller vor ihrer Freundin auf den Tisch stellte, sagte Estelle: »Du ahnst nicht, was mir vorhin passiert ist!«
»Bist du wieder einem flüchtigen Traumprinzen begegnet? Wo ist eigentlich der Wein, den du besorgen wolltest?«
»Eher nicht!«
Manon hatte Anstalten gemacht aufzustehen, um nach der Flasche zu suchen, und hielt nun mitten in ihrer Bewegung inne. »Wie schade! Aber erzähl schon, was ist passiert!«
»Du erinnerst dich doch an den Buchladen, der gegenüber des Pubs liegt und nie geöffnet hat?«
»Der mit dem Abwehrzauber.«
Estelle spuckte vor Überraschung fast das Wasser über den Tisch, das sie gerade trinken wollte. Behutsam stellte sie ihr Glas ab. »Genau der.«
Manon tat, als habe sie nichts bemerkt. »Was ist denn nun mit dem Traumprinzen?«
Estelle erzählte, wie sie in das Geschäft gegangen war, sich dabei vor irgendetwas erschrocken und deshalb ihre Einkäufe fallen gelassen hatte.
»Aha, dort ist mein Wein geblieben!«
»Allmählich mache ich mir Sorgen wegen deiner Trinkgewohnheiten. Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«
Manon öffnete eben ihren Mund, um zu antworten, da läutete es. Die beiden sahen sich an. Nachdem die Türglocke ein zweites Mal erklungen war und Manon weiterhin keine Anstalten machte zu öffnen, stand Estelle in der Absicht auf, durch das Etagenfenster im Treppenhaus nach dem späten Besucher zu sehen. Die schwere Haustür dort unten wurde nämlich meist bei Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen und einen elektrischen Türöffner gab es nicht. Normalerweise ließen die Mieter ihrem Besuch einfach einen Schlüssel am Bindfaden hinab in den Hof.
Als sie die Wohnungstür öffnete, gab sie einen kleinen Schrei von sich und schlug sie sofort wieder zu.
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Manon und kam, immer noch kauend, aus der Küche.
»Der Buchhändler! Ich glaube, er ist bewaffnet!«, flüsterte Estelle.
»Das ist doch Unfug!« Manon schob sie beiseite und riss die Tür auf. »Tatsächlich, der ... Buchhändler!« Dann begann sie zu lachen. »Und er hat sogar ein Gastgeschenk dabei. Wie aufmerksam.« Ehe er reagieren konnte, hatte sie ihm die Flasche abgenommen und reichte sie an Estelle weiter. »Zweifellos ist es deine Schuld, dass meine arme Mitbewohnerin sich in deiner staubigen Höhle fast zu Tode
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