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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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zwei Glieder mit einem vernehmlichen »Plop« aus ihren Gelenken verabschiedeten. Unwillkürlich folgte Julen seiner Aufforderung und beugte sich vor. Blitzschnell griff der Hüter nach seinem Hals, zog ihn zu sich herab und flüsterte: »Ich weiß, was du willst! Aber ich warne dich, lass die Finger von diesem Grimoire!« Sein Kichern ging in ein Husten über und ein fauliger Schneidezahn rollte über den Tisch.
    Jetzt reichte es ihm! Julen drehte sich auf dem Absatz um und floh regelrecht in die zuweilen nicht weniger unheimliche Zwischenwelt. Vampire, sofern sie überhaupt dazu in der Lage waren, nutzten sie, um von einem Ort zum anderen zu reisen. Doch ein solcher Ausflug kostete viel Energie, deshalb betraten selbst die mächtigsten diese Welt nur mit äußerster Konzentration. Man erzählte sich, die alten Götter seien dort eingetaucht, als die Menschen begannen, sie zu vergessen, und säßen jetzt in ihren unendlichen Tiefen wie Spinnen im Netz, die auf eine fette Beute warteten. Selten war jemand, der sich in ihren Weiten verirrt hatte, zurückgekehrt, und es hieß, wer sich zu lange dort aufhalte, vergesse sich selbst.
     
    Du wirst wiederkommen!, flüsterte die unheimliche Stimme des Hüters in seinem Kopf und er hätte sich am liebsten seine Finger in die Ohren gesteckt, wie er es als kleiner Junge immer getan hatte, wenn seine Mutter wieder einmal ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Singen, nachgegangen war.
    Der Hüter irrte nicht, Julen hoffte tatsächlich, das Grimoire zu finden. In diesem seit langer Zeit als verschollen geltenden Zauberbuch sollte unter anderem eine Formel notiert worden sein, mit deren Hilfe jemand aus der Zwischenwelt befreit werden konnte.
    Julen hatte Jahre gebraucht, um diese Dimension überhaupt betreten zu können, und auch heute war es ihm nur möglich, sich an der Peripherie zu bewegen. Wollte er sein Ziel erreichen, so musste er aber die Fähigkeit erwerben, tiefer in die trügerischen Weiten vorzudringen. Auch aus diesem Grund wollte er unbedingt ein Vengador werden.
    Anfangs wollte der Rat ihn nicht einmal vorlassen, doch dann begegnete er zufällig Kieran, der den Wert seines außergewöhnlichen Talents sofort erkannte und schließlich die Erlaubnis erwirkte, den ehrgeizigen Vampir zu trainieren. Julen hatte ihm viel zu verdanken und hoffte inständig, sich nicht seinen Zorn zuzuziehen, wenn er weiter Kontakt mit Estelle hielt. Immerhin hatte er eine gute Ausrede parat: Der fremde Vampir stellte eindeutig eine Bedrohung dar, die Feentochter hatte sich sehr gefürchtet. Julen nahm sich vor, ein Auge auf Estelle zu haben. Sie sah ihm sehr nach der Sorte Mädchen aus, die rasch in Schwierigkeiten gerieten; es half, dass er sie wirklich mochte.
    Die Spur, die ihm sein Informant gewiesen hatte, war inzwischen allerdings längst erkaltet, und Julen strich nächtelang erfolglos durch die Straßen. Er fand keine Hinweise auf den Verbleib eines weiteren Entführten, geschweige denn auf die Täter. Die Streuner hielten sich versteckt und verweigerten jede Auskunft.
    Julen hatte Estelles enttäuschten Gesichtsausdruck nicht vergessen, als sein Verführungsversuch so rüde unterbrochen worden waren.
     
    So kehrte er also in die Stadt zurück und musste mit ansehen, wie ein anderer versuchte, seinen Platz einzunehmen. Durch die angelehnten Türen ihrer Dachterrasse beobachtete er den Konkurrenten genau und war schnell überzeugt, einen langweiligen Sterblichen vor sich zu haben. Vielleicht war er ein Bekannter von Estelles Mitbewohnerin Manon. Obwohl sich Julen besonders anstrengte, gelang es ihm allerdings nicht, den Fremden zu lesen. Doch er war nicht beunruhigt, manchmal kam so etwas vor, oder es mochte auch daran liegen, dass die Reise durch die Zwischenwelt ihn stets schwächte und er ja ohnehin unter dieser unangenehmen »Leseschwäche« litt. Ein konventioneller Reiseweg wäre bestimmt die bessere Wahl gewesen, aber er hatte es eilig gehabt, Estelle wiederzusehen, und wie es aussah, war er keine Sekunde zu früh zurückgekommen. Wer weiß, ob dieses Nymphchen nicht vorhat, sich mit dem Sterblichen zu trösten. Julen wusste, Feen und im Allgemeinen auch ihre Nachkommen galten als außerordentlich lebenslustig. Er zog sich zurück und bemerkte nicht, wie ihm Estelles Besucher nachdenklich hinterherschaute.
    Hungrig durchquerte er die schlafende Stadt bis zu seinem Unterschlupf. Sein Informant hatte behauptet, in der Gegend wären besonders viele verdächtige Aktivitäten

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