Die Sternseherin
triftigen Grund an Sterblichen vergriff, und schauten bei Bewerbern wie ihm besonders genau hin. Hätte ihn jemand bei einer Entgleisung wie dieser erwischt, wäre dies womöglich der Schlussakkord zu seiner Karriere gewesen. Ausgerechnet von seinen gnadenlosen Kriegern erwartete der Rat Zurückhaltung! Manchmal wünschte er sich die alten Zeiten zurück, als sich niemand dafür interessiert hatte, auf welche Weise ein Vampir seine Bedürfnisse befriedigte, solange er nicht die unliebsame Aufmerksamkeit irgendwelcher Sterblicher auf sich zog. Aber es war nicht klug, in der eigenen Nachbarschaft zu jagen, und deshalb zog er das Handy aus seiner Hosentasche und wählte eine Nummer, die in keinem Telefonverzeichnis zu finden war.
»Winterfield Lieferservice, mein Name ist Victoria, was kann ich für Sie tun?« Julen gab seine Bestellung auf. »Mein Lieblingskunde!«, schnurrte es aus dem Telefon. »Möchtest du eine unserer Zusatzleistungen buchen? Bei dir mache ich jederzeit gerne einen Hausbesuch.«
Julen sah sich in seiner schäbigen Unterkunft um. Welch eine Enttäuschung würde auf die Gute warten, wenn er sie wirklich hierher bestellte. Außer einem Kühlschrank, auf dem die defekte Mikrowelle stand, war das einzige jetzt noch intakte Möbelstück ein schäbiger Sarg, der gut versteckt im Einbauschrank stand. Wegen dieses Schranks hatte Julen diese Bruchbude im heruntergekommensten Viertel der Stadt überhaupt nur gemietet. Er hasste Särge. Sie waren unbequem und die Luft darin war viel zu schnell verbraucht. Einen erholsamen Schlaf stellte er sich anders vor. Aber als Vengador brauchte er an vielen Orten sichere Schlupfwinkel, und nichts war anonymer als Vorstädte, in denen die Leute ihre Nachbarn weder kannten noch kennen wollten. In seinem eigentlichen Zuhause schlief er selbstverständlich in einem richtigen Bett. Nichts erschien dem Vampir in diesem Moment wünschenswerter, als eine schöne Frau im Arm zu halten und das Gefühl kühlen Leinens auf seiner Haut. Ersteres genoss er vorzugsweise in Hotels, sein Refugium jedenfalls war für erotische Abenteuer tabu. So nahe durfte ihm niemand kommen. Estelles Gesicht erschien vor seinem inneren Auge, wie sie mit geschlossenen Lidern seinen Kuss erwartet hatte. Für dieses wunderbare Geschöpf würde er womöglich eine Ausnahme machen.
»Was ist los, Herzchen? Glaubst du, du bist unser einziger Kunde?« Das klang nicht mehr ganz so verführerisch, aber Julen wusste ohnehin, dass die Stimme am anderen Ende der Leitung einem 190 Zentimeter großen, Blut trinkenden Transvestiten gehörte.
»Du kannst es einfach nicht sein lassen, Victor. Eines Tages findet Rolf heraus, was du da treibst, und dann gnade dir Gott!«, warnte er. Victors Lebensgefährte hatte es vor seiner Transformation als Show-Ringer zu beachtlichem Ruhm gebracht. Bei den beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und Victor würde nie im Leben daran denken, seinen Geliebten zu verlassen. Doch er spielte eben gerne mit dem Feuer und hatte sich damit schon mehr als einmal beinahe eine Tracht Prügel eingehandelt. Er wusste, dass Rolf ihm kein Haar krümmen würde, egal wie wütend er über die Seitensprünge seiner »Victoria« sein mochte, und nutze dessen Gutmütigkeit weidlich aus.
»Spielverderber!«, flötete er nun. »Na gut, dann eine Familien-Pizza mit Zwiebeln und extra Knoblauch, dazu dreimal »Sardelle deluxe«, die doppelte Lasagne geht aufs Haus. Vielen Dank für Ihre Bestellung, sie wird spätestens in einer Viertelstunde geliefert!«
»Untersteh dich!«, knurrte Julen, der Victor zutraute, ihm tatsächlich diese Scheußlichkeiten anstelle des bestellten Blutes ins Haus zu schicken.
»Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass der Pizza-Boy nicht inklusive ist«, erklang es ungerührt, dann war die Leitung tot.
Nach exakt fünfzehn Minuten klopfte es an der Tür. Draußen stand ein spindeldürrer Teenager und hielt ihm eine Styroporbox entgegen. Misstrauisch sog Julen die Luft durch seine Nase, glücklicherweise nahm er dabei deutlich den Duft von Blut wahr. Den Jungen hätte er nicht einmal angerührt, wenn er tatsächlich im Angebot gewesen wäre. Keine Ahnung, aus welchen Löchern Winterfield Ltd. die Lieferanten ausgrub, aber eines musste er ihnen lassen: Ein Übergriff auf die armen Teufel wurde je nach Schwere mindestens mit lebenslangem Lieferstopp geahndet – und das konnte für einen Vampir recht unangenehm werden, denn diese Blutbank galt nicht umsonst als
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