Die Sternseherin
Marktführer. Es gab keinen Ort, an den sie nicht binnen einer Stunde wohlschmeckendes und sehr wahrscheinlich das reinste Blut lieferten. Wenn es sein musste auch in einer Kühlbox mit 48-stündiger Haltbarkeitsgarantie. Wer wollte, konnte sich seine Lieferung sogar in Flaschen abfüllen lassen. Die Firma bot sogar Etiketten von Jahrgängen bester Weine als Tarnung an. Dieser Service war natürlich nicht ganz billig, aber die Ausgabe lohnte sich. Julen lief bereits das Wasser im Munde zusammen. Schnell gab er dem Bengel Trinkgeld, warf die Tür hinter ihm zu und trank zwei weitere Beutel leer. Er fühlte sich nach der anstrengenden Suche wie ausgedörrt. Kein Wunder, dass er seinen Nebenbuhler nicht hatte lesen können.
Oh,oh!, warnte die stets präsente innere Stimme. Nebenbuhler? Du hast dich doch nicht etwa verliebt?
»Was für ein Unsinn!«, grollte er wenig später, als der Zweifel immer noch an ihm nagte, und schlug den Sargdeckel über sich zu. Seine letzten Gedanken galten der Feentochter.
Am nächsten Abend stand sein Plan fest. Seltsam, dass ihre Gefühle einmal völlig abgeschirmt waren und dann wieder ganz deutlich vor ihm lagen. Sie wirkte verletzlich und Julen mochte das bei Frauen. Er nahm sich vor, gut auf sie achtzugeben. Bald nach Sonnenuntergang stand er auf Estelles Balkon und schob eine Nachricht unter der Tür hindurch. Von ihr unbemerkt konnte er beobachten, wie die Fee in die Hocke ging und den Umschlag aufhob. Sie drehte ihn erst auf die eine, dann auf die andere Seite, als erschließe sich ihr der Inhalt durch bloßes Draufstarren. Dann schien sie etwas gehört zu haben und sah in seine Richtung. Julen sprang lautlos auf die Dachzinnen außerhalb ihres Blickfeldes. Heute Abend war er dank der reichhaltigen Blutlieferung auf dem Gipfel seiner Leistungsfähigkeit. Die Sinne geschärft, die Bewegungen geschmeidig wie die einer Katze, beobachtete er gespannt ihre Reaktion. Sie ging ein paar Mal auf und ab, dabei fuhr sie sich mehrfach durch ihr Haar. Estelle schien zu wissen, dass diese Nachricht von ihm stammte. Natürlich, viele Besucher kamen sicher nicht auf diesem Weg. Endlich öffnete sie seinen Brief, und obwohl ihre Gedanken selbst für Julen überdeutlich zu lesen waren, hätte er auch an der leichten Röte, die ihr Gesicht überzog, ablesen können, dass sie aufgeregt war und sich über seine Einladung in das Konzert einer bekannten Band freute.
Wie erwartet, war es für ihn kein Problem gewesen, die VIP-Karten zu bekommen. Vermutlich hätte er sie der Mitarbeiterin des Veranstalters sogar abschwatzen können, wenn er kein Vampir gewesen wäre. Die Frau konnte ihren Blick während des gesamten Gesprächs nicht von seinem Lächeln lösen und ihre Hand zitterte, als sie ihm schließlich drei Tickets in dem Glauben überreichte, einem berühmten Filmstar einen unbezahlbaren Gefallen getan zu haben. Julen gab ihr einen formvollendeten Handkuss und musste die Arme anschließend zu ihrem Bürosessel begleiten, weil sie zu schwanken begann, sobald er ihre Finger berührte. Es tat dem Vampir beinahe leid, der Frau die Erinnerung an ihre Begegnung rauben zu müssen. Aber auch das hatte er im Laufe seines Daseins gelernt: »Hinterlasse niemals Spuren deiner Magie.«
Die Karten garantierten nicht nur einen Platz nahe der Bühne, sie gestatteten auch den Besuch der After-Show-Party im exklusivsten Club der Stadt und ein Treffen mit den Musikern. Letzteres würde er zu vereiteln wissen. Estelle würde den Abend mit ihm so aufregend finden, dass sie wenig Interesse daran haben würde, andere Männer kennenzulernen – oder, er dachte an ihren männlichen Besuch, Bekanntschaften zu vertiefen.
VI
Der Brief lag schwer in ihrer Hand. Wie war er hierher gelangt? Estelle musste lächeln. Der gestrige Ausflug schien also doch kein Traum gewesen zu sein. Sie hatte Manon zwar vom Kinobesuch und ihrem Wiedersehen mit Julen erzählt, die ungewöhnliche Reise dorthin aber wohlweislich verschwiegen. Die Freundin hätte ihr sowieso nicht geglaubt. Sie konnte es ja selbst kaum verstehen und hatte die halbe Nacht gegrübelt, ob sie nun endgültig verrückt geworden war.
Aber natürlich wusste sogar Estelle, als in magischen Angelegenheiten reichlich ungebildete Feentochter, genug über die Welt jenseits der menschlichen Vorstellungskraft, um zu erkennen, wie unterschiedlich die Talente einzelner Geschöpfe sein konnten. Ihre ältere Schwester Nuriya beispielsweise hatte sich vom
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