Die Sternseherin
Ausstrahlung und er hasste es, ihm jede Information aus der Nase ziehen zu müssen. Wobei das ein falsches Bild war. Die Kreatur vor ihm besaß keine Nase, und von dem dazugehörigen Gesicht war auch nicht viel übrig. Vermutlich haben sie ihm deshalb einen Schreibtischjob gegeben, dachte Julen gehässig. Jemand mit diesem Aussehen konnte sich schwerlich unbemerkt in der Welt der Sterblichen bewegen. Der Hüter blickte nicht einmal auf. »Sie ist tabu für dich.«
»Oh, wunderbar. Und warum das?«
»Zwilling.« Am liebsten hätte Julen ihn geschüttelt, um mehr zu erfahren. Aber er fürchtete, dass er nicht schnell genug sein würde, um auch nur einen Zipfel der übel riechenden Kutte des Kerls zu erwischen. Julen war von seinem Lehrer, einem mächtigen Vengador, eindringlich davor gewarnt worden, dem Hüter jemals zu nahe zu kommen. Aus Übermut hatte er es eines Tages natürlich trotzdem versucht. Aber der Wicht war blitzschnell im Nichts verschwunden. Den Schrei, den er dabei von sich gegeben hatte, würde Julen nie vergessen. Noch Tage später klirrten seine Ohren von diesem unirdischen Geheul.
»Ein paar zusätzliche Informationen brauche ich schon!«, verlangte er. »Ein Vampir ist hinter ihr her – ein ziemlich eifersüchtiger, möchte ich behaupten, vielleicht ist sie in Gefahr.«
Schrilles Lachen war die einzige Antwort, die er erhielt. Dann setzte der Hüter sich hinter seinen Schreibtisch, schob ein paar staubige Bücher beiseite und sah Julen aus wässrigen Augen an, bis der versucht war, seinen Blick abzuwenden. Diese Bewegung jedoch hätte das Ende der Audienz bedeutet, wie er aus Erfahrung wusste. Also bemühte er sich, vage die Blickrichtung beizubehalten und dabei an etwas besonders Schönes zu denken. Estelles Gesicht erschien vor seinem geistigen Augen.
»Die Kleine hat es dir aber angetan!«
»Was sagst du da?« Julen spürte einen kurzen Moment der Panik.
»Benutze endlich deinen Verstand, Dummkopf, anstatt dich blind auf deine Kräfte zu verlassen. Anderenfalls wird dein erster Job als Vengador auch dein letzter sein!«
Zum ersten Mal sah Julen die Hände seines Gegenübers und beobachtete fasziniert, wie dieser die Fingerspitzen aneinanderlegte, wobei sich ein Nagel nach dem anderen löste und auf den Tisch fiel. Das Geräusch, das dabei entstand, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Es wurde Zeit, dass er Antworten erhielt.
Ungerührt schob der Hüter die Nägel zusammen, bis sie ein Häufchen aus Horn und geronnenem Blut bildeten. »Sieh mich an, du Narr!« Julen gehorchte augenblicklich. »Estelle und Selena sind ganz besondere Zwillinge. Sie sind die Schwestern von Nuriya, der Auserwählten.«
Vor Überraschung hätte Julen beinahe erneut den Blickkontakt und damit auch das Gespräch abgebrochen. Er nahm sich zusammen und an seiner Stimme war erfreulicherweise nicht zu erkennen, wie sehr ihn diese Nachricht aufwühlte. Das hoffte er zumindest. Nuriya hieß die Seelenpartnerin von Kieran, wahrscheinlich einer der mächtigsten Vengadoren – in jedem Fall der gefürchtetste – und unglücklicherweise auch sein Mentor und Trainer.
Kieran galt als unberechenbar, im besten Fall einschüchternd. Davon hatte Julen nichts gewusst, als Kieran ihn damals in der ersten Woche seiner Ausbildung an einen Pfahl gebunden und ihm dabei erklärt hatte, dass er bis zum Sonnenaufgang Zeit habe, sich seiner Fesseln zu entledigen. Julen war gerade noch so mit heiler Haut davongekommen. Als ein relativ junger Vampir vertrug er nur sehr wenig Tageslicht und sein Lehrer hatte ihn mitten in der Wüste ausgesetzt. Es dauerte Wochen, bis seine schmerzenden Brandverletzungen geheilt und er wieder zu Kräften gekommen war. Wieder regeneriert verlangte er eine Erklärung.
»Damit du deine Grenzen kennenlernst. Entweder du überlebst diese Ausbildung oder du bist nicht gut genug, um ein Vengador zu sein.«
Julen hatte sich nie wieder beklagt.
»Niemand, der noch alle Sinne einigermaßen beisammenhat, würde es wagen, den Feenschwestern zu nahe zu treten«, überlegte er laut. »Wer ist dann dieser andere Vampir? Kieran kennt mich, er hätte kaum solch einen Budenzauber veranstaltet.«
»Das wirst du noch früh genug herausfinden!« Der Hüter richtete sich zu seiner vollen Größe auf, dabei reichte er auch stehend kaum bis an Julens Ellenbogen heran. Dennoch war seine Präsenz überwältigend. Sein Lachen klang böse, als er ihn mit gekrümmtem Zeigefinger näher heranwinkte, wobei sich
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