Die Sternseherin
beobachtet worden, und dies war letztlich der Grund, warum er sich hier ein Quartier besorgt hatte. Entdecken konnte Julen jedoch nichts und er begann sich allmählich zu fragen, ob der Spitzel ihn nicht an der Nase herumführte. Im Eingang des heruntergekommenen Wohnblocks lungerten selbst zu dieser späten Stunde Jugendliche herum. Zwischen ihnen standen Flaschen mit Hochprozentigem und sie bemerkten nicht einmal, dass er an ihnen vorbei durch die Tür schlüpfte. Nur seiner außerordentlichen Nachtsicht war es zu verdanken, dass Julen innen nicht über das Skelett eines Kinderwagens stolperte. Er probierte gar nicht erst aus, ob das Licht heute ausnahmsweise funktionierte, und statt den sowieso meist defekten Aufzug zu benutzen, eilte er mit langen Schritten die Treppen hinauf in die obere Etage, in der sich am Ende eines finsteren Gangs seine winzige Studiowohnung befand. Durch die geschlossenen Türen, die er auf diesem Weg passierte, drangen die unterschiedlichsten Geräusche zu ihm heraus. Dieses Haus schlief nie. Irgendwo plärrte immer ein Kind, liefen Fernseher, stritten Menschen oder liebten sich. Das rhythmische Stöhnen einer Frau ließ beinahe seine Reißzähne hervorschießen. Wütend schlug er seine Wohnungstür so heftig hinter sich zu, dass der Putz rieselte, und riss die Kühlschranktür auf. Nur eine Blutkonserve lag noch darin. Die anderen hatte er dem Spitzel als Belohnung geben müssen. Er nahm den Beutel, schlug seine Zähne hinein und trank. Mit einem kehligen Laut zwischen Fauchen und Grollen warf er die schlaffe Packung anschließend in den Abfalleimer. Dieser Schluck war viel zu wenig, um seine Blutlust zu befriedigen. Unruhig ging er auf und ab. Durch den Teppich unter seinen Füßen schimmerte der billige PVC-Boden in einer Mischung zwischen Schlammgrau und einem Grün, dessen Ähnlichkeit mit anderen Dingen er lieber nicht genauer analysieren wollte. Angewidert sah er sich in seiner schäbigen Behausung um. Hierher kann ich Estelle auf keinen Fall einladen. Woher kam dieser Gedanke? Julen trat gegen einen Stuhl, der daraufhin quer durch den Raum flog und schließlich mit drei Beinen in der Wand stecken blieb. Er hatte große Lust hinauszugehen und den erstbesten Sterblichen zu beißen, der ihm begegnete; ihn auszusaugen, bis kein Tropfen Blut mehr übrigbliebe. Die lästigen Bengel dort unten fielen ihm ein, und ehe er wusste, was mit ihm geschah, fand er sich schon am Fenster wieder. Nur noch ein Katzensprung trennte ihn von seinem Glück und Sekunden später landete er wie auf Samtpfoten im Schatten eines Baums. Seine Augen nahmen das eisige Blau der Gletscher an, wie sie es immer taten, wenn er bereit zum Angriff war. Komm! Der Befehl war kaum ausgesprochen, als einer der Jugendlichen verkündete, er müsse mal pissen, und direkt auf den lauernden Vampir zuging. So ist es recht! Die langen Reißzähne glänzten im schwachen Mondlicht und Julen griff nach dem Hals seines Opfers. Eine Frau wäre ihm lieber gewesen, aber nach Einbruch der Dunkelheit waren die meisten klug genug, nicht mehr alleine in dieser Gegend auf die Straße zu gehen oder sich womöglich von den schwach beleuchteten Wegen zu entfernen. Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, lag er schlaff in seinen Armen. Ohne Umstände kam Julen zur Sache und konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Jedes Mal, wenn er die Haut des Opfers durchstieß und den ersten Schluck trank, übermannte ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Nur die warme Flüssigkeit auf seiner Zunge und der heftige Herzschlag des Mannes in seinen Armen zählten noch. Doch plötzlich gesellte sich der Duft sexueller Begierde hinzu. Julen ließ sofort von seinem Opfer ab und stieß es angeekelt von sich. Männer entsprachen wahrlich nicht seinem Beuteschema. Verdammt! Die Trance hätte tiefer sein müssen. Aber nicht alle Sterblichen reagierten gleich auf die hypnotischen Fähigkeiten eines Vampirs, und dieser hier hatte eindeutig einen feuchten Traum gehabt, anstatt wie geplant sanft zu schlummern.
»Das nächste Mal, wenn du in die Büsche verschwindest, solltest du auch deine Hose öffnen!« Julen lachte leise, als der Junge aufheulte und davonlief. Nach wenigen Schritten hatte er sein Abenteuer bereits vergessen, nur die hämischen Kommentare seiner Kumpane hallten hinauf zu Julens Zimmer und waren noch zu hören, als dieser längst das Fenster hinter sich geschlossen hatte.
Seine Auftraggeber sahen es nicht gern, wenn ein Vengador sich ohne
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