Die Sternseherin
widerspenstigen Pummelchen zu einer charismatischen Persönlichkeit entwickelt. Selena wanderte am liebsten in der Natur herum, konnte stundenlang die Schönheit einer einzelnen Blüte bewundern und besaß zudem ein außerordentliches Geschick im Umgang mit Tieren. Estelle wiederum liebte Bücher über alles. Und dies nicht nur, weil sie auf eine geheimnisvolle Weise mit ihr zu sprechen schienen. Aber jetzt ging es um den Brief in ihrer Hand. Der Umschlag duftete nach ihm. Unentschlossen drehte sie ihn einige Male hin und her. Es knisterte. So sehr sie ihn auch anstarrte, der Inhalt wollte sich ihr auf diesem Weg nicht erschließen. Also riss sie das elegante Kuvert schließlich doch auf, und als sie den Bogen auseinanderfaltete, fielen ihr zwei Konzertkarten entgegen. Neben klassischer Musik schwärmte sie momentan auch für britischen Pop. Zugegeben, ihr Musikgeschmack änderte sich gelegentlich dramatisch. Noch im vergangenen Jahr hatte sie liebend gerne gemeinsam mit Selena die Gothic-Clubs ihrer Heimatstadt besucht, aber zurzeit pflegte sie neue Vorlieben und plötzlich hielt sie die Tickets für einen Auftritt ihrer Lieblingsband in den Händen. Dazu eine Einladung für Manon. Sie sollte also die zweite Karte bekommen. Mit gleichmäßig geschwungener Handschrift, die schon fast an Kalligrafie erinnerte, bat Julen, ihn gegen 21 Uhr in dem Pub zu treffen, das zur Konzerthalle gehörte.
»Manon, sieh nur, was ich hier habe!« Ihre Mitbewohnerin teilte glücklicherweise ihre musikalischen Interessen und beide hatten sich gegenseitig an vielen Abenden ihre Lieblingslieder vorgespielt. Estelle sprang aufgeregt durch die Küche und hielt Manons Augen zu. »Rate!«, forderte sie.
»Du hast im Lotto gewonnen?«
»Unfug, versuch es nochmal!«
»Deine Hausarbeit ist fertig?«
»Das ist nicht fair! Darf ich daran erinnern, dass der Professor einem späteren Abgabetermin ausdrücklich zugestimmt hat?«
»Ja, weil du ihm die Ohren solange vollgejammert hast, wie schwierig Umzug und Wohnungssuche gewesen wären, bis er dir diesen Aufschub gewährt hat. Ich bitte dich, wenn du etwas nicht suchen musstest, dann war das doch wohl eine passende Unterkunft!«
»Spielverderberin!« Estelle gab Manon frei und hielt ihr den Brief unter die Nase. Die Freundin las schweigend und sagte nur: »Wahnsinn, das Konzert ist seit Wochen ausverkauft!« Dann schaute sie auf die Uhr und zurück auf die Tickets und verkündete: »Vierzig Minuten Zeit, um dich zu stylen. Das schaffst du nie!«
»Wetten, dass?«
Die Mädchen kicherten und verschwanden in ihre Zimmer. Estelle hatte sich erstaunlich schnell entschieden. Während Manon noch ein T-Shirt nach dem anderen aus ihrem Kleiderschrank zerrte, streifte sie ein schwarzes Kleid über. Ein begeisterter Fotograf hatte ihr nach einem Shooting eine Tüte mit Klamotten aus einer der teuersten Pariser Boutiquen mit den Worten in die Hand gedrückt: »Du bist sensationell, Baby! Danke für diesen großartigen Job!« Im Grunde war das Kleid schlicht. Doch die raffinierte Schnittführung, zusammen mit einem Material, das sich wie eine zweite Haut an ihre, inzwischen dank des unermüdlichen Einsatzes ihrer Freundin in der gemeinsamen Küche, schon etwas weniger knochige Gestalt schmiegte, verlieh ihr einen Hauch von Hollywood. Jedenfalls waren das Manons Worte, als sie Estelle mit ihrem Ellenbogen vor dem Spiegel verdrängte. »Göttinnen brauchen kein Make-up, in meinem Alter dagegen darf eine Frau nichts unversucht lassen«. Estelle fragte sich, wie viel älter Manon sein mochte. Doch höchstens ein oder zwei Jahre. Sehen konnte diesen Altersunterschied bestimmt niemand.
Fröhlich machten sich die Freundinnen auf den Weg zum Konzert.
Asher, der ihnen unbemerkt folgte, fühlte sich deutlich älter als Manon. Und sehr müde. Dunkelelfen wie er hielten zwar gemeinhin länger durch als geschaffene Vampire, aber auch sie wurden früher oder später ihres Daseins überdrüssig. Es gab irgendwann kaum etwas, was ihre Sinne noch reizen, ihre Fantasie beflügeln konnte. Nur eines blieb: die Lust, einer anderen Kreatur das Leben zu nehmen, sie ihres Blutes und ihrer Seele zu berauben, in dem verzweifelten Versuch die eigene Leere zu füllen. Es gab nur eine Hoffnung, die Verbindung mit einem wahren Seelengefährten. Diese schien jedem Vampir Frieden und neuen Lebensmut zu schenken. Asher hatte dieses Glück nie gehabt. Für ihn war die außergewöhnliche Liebe bisher nur Theorie geblieben, von der
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