Die Sternseherin
nicht zu dieser After-Show-Party? Da wäre Asher doch nie hineingekommen, so wie er aussieht.«
Manon ignorierte ihren Einwurf. »Er ist ein netter Kerl, wenn auch zugegebenermaßen etwas weltfremd, aber er hat es verdient, dass ihm jemand auf seinem Weg zurück aus der staubigen Welt der Bücher in die Realität unter die Arme greift.«
Estelle kostete gerade die Suppe und sog scharf Luft ein, um ihre verbrannte Zunge zu kühlen. »Natürlich«, lispelte sie. »Ganz wie du willst, ich werde nett zu ihm sein!«, und vertraute darauf, dass sie dem Langweiler so schnell nicht wieder begegnen würde.
Anders verhielt es sich mit Julen. Sie runzelte die Stirn. Wohin war er nach dem Konzert verschwunden? Ihre Erinnerung schien doch getrübter zu sein, als sie geglaubt hatte. Wahrscheinlich hatte sie es einfach nur nicht mitbekommen, als er sich verabschiedet hatte.
Nach dem Abendessen machte sie sich auf, ihre guten Absichten in die Tat umzusetzen, und lief eilig die Haustreppe hinunter, um vor dem Einkauf wenigstens noch eine halbe Stunde durch die abendlichen Straßen zu joggen.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als eine Gestalt aus den Schatten des Innenhofs trat. »Julen?«
»Mein Augenstern!«
»Lass das doch! ›Augenstern‹ klingt irgendwie schräg!« Tatsächlich aber war sie geschmeichelt und weiß Gott, es gab schlimmere Kosenamen. Der Vampir beispielsweise nannte ihre Schwester »Kleines«, und obwohl Nuriya ihr selbst bestenfalls bis zur Schulter reichte, fand sie diese Bezeichnung für die ältere Schwester unpassend. Julen jedoch schien ihre Kritik ernst genommen zu haben und versuchte sich an einem Gesichtsausdruck, der vermutlich signalisieren sollte »ich bin zerknirscht!«, was Estelle nun wirklich zum Lachen brachte.
»Ich bin froh, dass es dir wieder gutgeht!« Er strich über ihre Wange. »Was war gestern nur los mit dir?«
Estelle fand, da sie Manon schon reinen Wein eingeschenkt hatte, sollte sie auch Julen die Wahrheit nicht vorenthalten. Zumal er möglicherweise der Einzige war, der eine Lösung für ihr Problem kannte. Hatte er nicht selbst behauptet, er gehöre zum Feenvolk? »Komm mit herauf, ich möchte das nicht zwischen Tür und Angel besprechen.«
»Ich habe eine bessere Idee.« Ehe sie wusste, was er plante, hatte er Estelle so fest umarmt, dass sie nicht viel mehr sah als die Rippen eines Pullovers. Er roch ein wenig nach Wolle, Meer und sehr nach – Julen. Estelle schlang ihre Arme um ihn und streifte dabei sein muskulöses Hinterteil. »Mhm!«, entschlüpfte ihr ein anerkennender Laut. Daran konnte sie sich gewöhnen.
Seine Stimme klang amüsiert, als er sie anwies: »Halt dich nur gut fest!« Gleich darauf fühlte sie sich körperlos und frei wie ein winziger Stern am Nachthimmel.
»Mon dieu! Que-est ce que c'est?«, dieser erstaunte Ausruf in bestem Französisch holte sie in die Gegenwart zurück. Festen Boden unter den Füßen spürend löste sie sich hastig aus Julens Umarmung und drehte sich um. »Pardon!«, murmelte der Passant, der sie aus ihrer angenehmen Trance gerissen hatte, und sah sie einen Moment lang ratlos an. »Bienheureux ceux qui croient à l'amour! Glücklich, wer an die Liebe glaubt.« Sie meinte zu hören, wie er im Weitergehen murmelte: »Ich hätte schwören können, die beiden Turteltauben sind aus heiterem Himmel auf die Straße geschwebt ...«
»Touristen!«, lachte Julen, griff ihre Hand und zog sie hinter sich her.
Linksverkehr. Estelle war erleichtert. Einen Augenblick lang hatte sie schon geglaubt, Julen hätte sie nach Paris entführt. Das Bistro, das sie nun gemeinsam betraten, hätte sich jedenfalls ohne weiteres auch im Quartier Latin befinden können. Galant rückte der Kellner ihren Stuhl zurecht, bevor er mit ihren Mänteln und der Bestellung verschwand. Julen entzündete mit wenig mehr als einer Handbewegung eine Kerze und grinste jungenhaft über dieses Zauberkunststück.
»Angeber! Wie hast du das nun wieder gemacht?« Als er seinen Mund zu einer Antwort öffnete, schüttelte Estelle den Kopf. »Ich will es gar nicht wissen. Aber danke sehr, du hast es wieder einmal geschafft, mich zu völlig aus dem Konzept zu bringen.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Wo sind wir?« Sie kam sich in Sweatshirt und Workouthosen reichlich deplatziert vor.
»Glasgow hat großartige Restaurants, findest du nicht auch?«
Estelle setzte sich rasch auf, als sie jemanden neben sich bemerkte. Etwas verspätet zog sie ihre Finger unter
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