Die Sternseherin
Julens Hand hervor. »Oh! Ganz entzückend.« Sie band ihren Schal ab und faltetet ihn zusammen.
Der Kellner sah von einem zum anderen und zwinkerte ihnen zu. Offenbar hielt er sie für ein Liebespaar. »Eine gute Wahl, Madame!« Ob er den Wein, sein Lokal oder Julen meinte, blieb dabei offen.
Julen hob sein Glas und sah ihr über den Rand tief in die Augen, als wolle er ihre Gedanken lesen. Tatsächlich hätte er das auch gerne getan, aber wenn sie sich nicht gerade in einer extremen Stresssituation befand, war das Aufrechterhalten ihrer Schutzschilde Estelle längst zur zweiten Natur geworden. Seit sie sich geradezu fluchtartig dem direkten Einfluss Kierans und ihrer Schwestern entzogen hatte, ging es ihr viel besser und der gestrige Rückfall war bereits überwunden. Was nichts an der Tatsache änderte, dass sie dringend ihr Leben in den Griff bekommen musste. »Also gut, hier ist meine Geschichte«, begann sie und erzählte von ihren beklemmenden Visionen.
Julen hörte zu, ohne sie zu unterbrechen und als Estelle am Ende ihrer Erzählung ihr Glas in einem Zug leerte, schenkte er wortlos nach und betrachtete anschließend einen Tropfen, der langsam den Flaschenhals hinabglitt, bis er das Tuch erreichte, das der Kellner sorgfältig darum gebunden hatte. Anschließend sah Julen direkt in ihre Augen. »Dieser 1985er Saint-Julien hat etwas mehr Respekt verdient.«
»Entschuldige.«
»Du hast ein Problem.«
Estelle stellte fest, dass Julens Glas noch gut gefüllt war. »Glaub mir, ich schütte Wein normalerweise nicht so herunter, es tut mir leid!« Sie griff nach einer Serviette und begann, das steife Leinen weichzukneten, bis kräftige Hände ihr Einhalt geboten. Seine Finger waren sehnig und Estelle stellte sich vor, wie sie über ihre Haut strichen und sie erregten. Schließlich riss sie sich zusammen und verscheuchte ihren Wunschtraum. Eine leichte Röte machte sich in ihrem Gesicht breit.
Julen lächelte. »Ich meine nicht den Wein. Mir bereitet es Sorge, wie du auf diese Visionen reagierst.«
»Ich weiß, das ist nicht gut.« Estelle nahm das Kneten wieder auf.
»Das stimmt leider. Aber ich bin sicher, es gibt eine Lösung.« Und dann erzählte er ihr von dem magischen Grimoire, den geheimen Formeln, die dieses Zauberbuch enthielt und davon, dass er einen ersten Hinweis entdeckt hätte, wo es zu finden sei.
Estelle lauschte gebannt. »Glaubst du wirklich, dass es mir helfen kann?«
»Ich bin überzeugt davon.«
Doch so einfach gab sie sich nicht zufrieden. »Und aus welchem Grund suchst du dieses Grimoire?«
»Wegen meines Zwillingsbruders.«
Estelle ließ nicht erkennen, ob die Eröffnung, er sei ebenfalls ein Zwilling, sie überraschte. Und so fuhr Julen einen Moment später fort: »Seit ich denken kann, wussten wir Brüder immer, wie es dem anderen ging. Sobald einer ein Problem hatte, und das kam, wie bei allen kleinen Jungen, ziemlich häufig vor, war der andere zur Stelle.
Wir lebten an einer Steilküste und eines Tages kletterte Gunnar über die Klippen, um einen dieser Papageientaucher zu fangen, die dort im Sommer zu Hunderten nisteten. Er wollte unserer Mutter, die schöne Dinge liebte, die bunten Federn zum Geburtstag schenken. Dabei muss er abgerutscht sein. Er stürzte auf einen Felsvorsprung und schlug sich den Kopf an. Im selben Moment, in dem er ohnmächtig wurde, wusste ich, dass etwas passiert war.«
Estelle glaubte, die Furcht des kleinen Jungen von damals noch immer in seiner Stimme zu hören, und streckte ihre Hand nach ihm aus. Julen sollte wissen, dass sie seine Gefühle verstand. Wehmütig dachte sie daran, wie sie selbst einst eine derart enge Verbundenheit zu ihren Schwestern gespürt hatte. Doch das war vorbei. Und sie selbst trug die Schuld daran. Sie war es gewesen, die alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, und es kostete zuweilen beinahe mehr Kraft, als sie aufbringen konnte, den mentalen Kontakt zu ihren Schwestern weiter zu blockieren.
Julen blickte an ihr vorbei, als er weitersprach: »Ich führte unsere Knechte bis zur Absturzstelle. Gerade noch rechtzeitig konnten die Männer Gunnar mithilfe von Seilen vor der schnell steigenden Flut in Sicherheit bringen.« Er räusperte sich und trank einen Schluck. »Mit zwölf Jahren wurden wir getrennt und in unterschiedlichen Pflegefamilien untergebracht. Unser Vater hatte uns ermahnt, dort zu bleiben, bis er uns wieder abholen würde. Und er hatte versprochen, uns jedes Jahr zu besuchen. Er kam kein einziges Mal.
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