Die Sternseherin
und flirtete nun ganz offen mit ihm. Julens Körper scherte sich ebenfalls nicht um die Konsequenzen und er war froh, früher am Abend nicht nur von den Blutkonserven getrunken zu haben, die das in Vampirkreisen beliebte Hotel seiner nachtaktiven Klientel selbstverständlich zur Verfügung stellte, sondern in einem Anfall von Schwäche auch gejagt zu haben. Die Nähe zu Estelle hatte ihn ungewöhnlich nervös gemacht und sein Blutrausch war entsprechend heftig gewesen. Die Hure, von der er in einem billigen Bordell getrunken hatte, während seine arglose Begleiterin sich in einer Luxusboutique einem wesentlich unschuldigeren Rausch hingegeben hatte, hatte keines seiner Gelüste befriedigen können, und sie hatte ihr Leben nur der eisernen Disziplin zu verdanken, die ihn vor einem fatalen Ausrutscher bewahrt hatte. Einen derartigen Fehler konnte er sich mit seiner ungefestigten Stellung als Vengador-Novize nicht erlauben. Jeder normale Vampir hätte sie ungeachtet des Verbotes getötet, da war sich Julen sicher. Während er wütend in den verbrauchten Körper stieß und sich schließlich in ihr ergoss, hatte er an Estelle gedacht und selbst das kokainschwangere Blut der bedauernswerten Kreatur hinterließ nach einem kurzen High nur den schalen Nachgeschmack unbefriedigter Lust. Julen hatte mehr getrunken als üblich und trotzdem spürte er schon wieder, wie das unersättliche Tier in seinen Adern Witterung aufnahm und lüstern seinen Kopf auf der Suche nach neuer Beute hob. Wäre er klug gewesen, hätte er den Club auf der Stelle verlassen, doch stattdessen ließ er es zu, dass Estelle ihre Arme um seine Taille schlang, und während seine Hände über ihren Rücken glitten, stellte er sich vor, es sei ihre nackte Haut und nicht die Seidenbluse, deren Berührung seinen Körper in Aufruhr versetzte. Estelle blieb das nicht verborgen, aufreizend rieb sie ihre Hüften an ihm und öffnete ihre Lippen, um sie mit der Zungenspitze langsam zu befeuchten. Mehr brauchte es nicht, um Julen jeglicher Vernunft zu berauben, und er begann, sanft ihre Mundwinkel zu küssen. Gott, wie ihr Blut duftete! Jetzt biss ihn das kleine Biest auch noch in die Unterlippe und ihre Küsse wurden drängender, ihr Körper schmiegte sich an den seinen. Sie schmeckte nach Versuchung und Frau – eine Frau, die offensichtlich genau wusste, was sie wollte, stellte er überrascht fest, als ihre Hand immer tiefer seinen Rücken hinabglitt.
»Hey, Leute. Sucht euch ein Zimmer!«
Der Sterbliche neben Julen zwinkerte ihnen unverschämt zu und verschwand danach in der Menge. Estelle machte eine Kopfbewegung zum Ausgang. Was hätte er anderes tun können, als ihrer Aufforderung zu folgen?
Vor dem Club stand kein Taxi und so beschlossen sie, zu Fuß zu gehen. Julen war deutlich ernüchtert. Der Kommentar des Gastes hatte ihn aus seiner Trance aufgeschreckt. Er hatte nicht einmal gespürt, dass sich ihm jemand näherte, um diesen zweifellos guten Rat in sein Ohr zu flüstern. Derart die Kontrolle zu verlieren, konnte schnell zum tödlichen Fehler werden.
Und dann spürte er nur wenige Hundert Meter vom Club entfernt auch noch dieses einzigartige Kribbeln, das von seinem Genick aus langsam die Wirbelsäule entlang kroch. Ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass sich andere Vampire in der Nähe befanden.
Er musste nicht lange warten. Drei geschaffene Vampire kamen auf sie zu. Wahrscheinlich waren sie schon vor ihrer Transformation Teil einer »Streetgang« gewesen, ihre Kleidung und das provokante Auftreten sprachen jedenfalls dafür. Außerdem wirkten sie ausgesprochen jung und hatten bisher kaum mehr als ein paar Jahre ihre kümmerliche Existenz durch die Finsternis gerettet. Trotz ihrer Unerfahrenheit erkannten sie Julen sofort als das, was er war: ein Mitglied des vampirischen Adels, ein Dunkelelf, der seine Vorfahren bis auf die Stammväter der vampirischen Rasse zurückverfolgen konnte.
Wie die meisten geborenen Vampire verachtete er insgeheim seine geschaffenen Brüder, deren menschliche Herkunft häufig auch nach der Wandlung nur zu deutlich war. Besonders diejenigen, die mit Gewalt zum Vampir gemacht wurden, fühlten sich ihren sterblichen Familien meist auch nach der Transformation so stark verbunden, dass sie das Dahinscheiden ihrer Liebsten nicht verwinden konnten und spätestens nach ein paar Generationen selbst ein freiwilliges Ende ihrer Existenz im Licht suchten. Anders als die geschaffenen Vampire entwickelten diese Geschöpfe der
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