Die Sternseherin
den anderen Gästen nicht verborgen blieb. Männer sahen sich nach ihr um und die anwesenden Frauen strahlten eine Ablehnung aus, die Estelle an weniger guten Tagen in die Flucht geschlagen hätte. Sie bemühte sich, ihre Schutzschilde sicher zu schließen, und hielt sich sehr aufrecht. Julen schien hier kein Unbekannter zu sein. Er kommt offenbar viel herum, dachte sie. Eine junge Frau, kaum dem Mädchenalter entwachsen, begrüßte sie und führte sie an einen freien Tisch ganz in der Nähe der Tanzfläche. Dabei hatten beide ausreichend Gelegenheit, die geschmeidigen Bewegungen des makellosen Körpers unter der blutroten Seide ihres Kleides zu bewundern. Julen flüsterte Estelle ins Ohr: »Glaubst du, sie trägt etwas unter diesem sündigen Nichts?« Dabei sah er sie an, als hoffe er das Gleiche von ihr.
»Versuche lieber nicht, es herauszufinden!« Sie ließ es wie eine scherzhafte Drohung klingen und war selbst überrascht, wie sehr sie der Gedanke störte, Julen könnte sich heute Abend für eine andere Frau interessieren. Doch dagegen ließ sich etwas unternehmen! Ihre Anspannung ließ nach und sie erlaubte sich, seine Nähe zu genießen. Ohne tatsächlich berührt zu werden, war sie sich seiner Gegenwart deutlich bewusst. Eine Erinnerung wurde wach und verlangte danach, in ihr Gedächtnis zurückzukehren.
War Julen womöglich ihr Seelenpartner?
»Romantischer Unsinn!«, so hatte sie die Wunschträume ihrer Zwillingsschwester noch wenige Wochen zuvor abfällig kommentiert. »Ein völlig veraltetes Konzept ist es obendrein, heute sucht man sich seinen Partner bewusst aus und lässt sich eine Beziehung nicht von launischen Schicksalsgöttinnen diktieren.« Selena liebte ihren Freund sehr, aber sie wurde immer wieder von Zweifeln geplagt, ob er wirklich »der Richtige« war. Estelles harsche Worte klangen in der Erinnerung spöttisch und verletzend, und sie schämte sich plötzlich für ihre Arroganz. Es war für Selena gewiss nicht einfach gewesen, ihr diese Sorgen anzuvertrauen, besonders nachdem ihr älterer Zwilling, Estelle, nach der Rückkehr in die Heimat auf all die Veränderungen in der Familie derartig feindselig reagiert hatte. Sicher, sie fand Vampire abscheulich und daran würde sich auch nie etwas ändern, aber war das Grund genug, die Schwestern ständig anzugreifen? Nuriya, die selbst zu einem dieser elenden Blutsauger geworden war – vielleicht. Selena jedoch bemühte sich sehr um eine neutrale Haltung und hatte die Hoffnung auf Versöhnung nicht aufgeben. Sie, die sanfteste der drei Feenschwestern, war stets um Ausgleich bemüht. Nein, Selena hatte ihren Spott wirklich nicht verdient. Und überhaupt, was wäre eigentlich, wenn die himmlischen Damen ausnahmsweise einmal einen exquisiten Geschmack bewiesen und ihr Julen zur Seite stellten? Immerhin war er von der gleichen Art wie sie, das hatte er doch selbst gesagt, ein Elf – und ein vielseitig talentierter obendrein. Estelle spürte das elektrisierte Knistern ihrer Nerven bis in die Fingerspitzen, als sich ihre Hände in diesem Moment wie zufällig berührten. War die Idee, dass jede Kreatur einen Seelenpartner besaß, der irgendwo da draußen auf sie wartete, wirklich völlig abwegig?
»Lass uns tanzen!« Dankbar für diese Ablenkung folgte sie ihm auf die Tanzfläche, wo sie sich nach wenigen Takten vollständig in der Musik verlor.
Julen genoss den Anblick der geschmeidigen Bewegungen, mit denen sie sich dem Rhythmus der Musik hingab, und er war nicht der Einzige. Andere Männer starrten sie unverhohlen lüstern an und er zog Estelle besitzergreifend näher an sich heran. Früher wäre eine Fee als Gefährtin für ihn niemals in Frage gekommen, jetzt allerdings war er geneigt, diese Entscheidung zu überdenken. Insgeheim träumte er zwar immer noch von einer Vampirprinzessin, die er eines Tages erobern würde, und wusste doch, wie gering seine Chancen waren, denn von den Nachtelfen hatten praktisch keine Frauen überlebt. Warum auch sonst sollten Krieger wie er sich mit einer Fee oder Lichtelfe, wie sie auch genannt wurden, abgeben? Doch Estelles offene Art begeisterte ihn und er spürte, wie seine Erregung wuchs, als sie sich bei einem langsamen Lied an ihn schmiegte. Gegen ein Abenteuer wäre eigentlich nichts einzuwenden, gäbe es da nicht Kieran, ihren Schwager, wenn man so wollte. Selbst dieses verführerische Geschöpf war es nicht wert, sich den Groll dieses Vengadors zuzuziehen.
Dummerweise ahnte sie nichts von seinen Bedenken
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