Die Sternseherin
ihrer Stimme zu hören. Ashers Anspannung ließ nach. Ein wichtiger Schritt war getan. Ihre nächste Frage ernüchterte ihn allerdings wieder. »Glaubst du wirklich, Julen wollte mich nicht täuschen, sondern beschützen?«
»Liebst du ihn?« Die Frage kam heraus, bevor er nachdenken konnte. Ihr Lachen war die schönste Melodie, die er je gehört hatte.
Estelle fühlte sich so leicht, als wäre ihr eine große Last von den Schultern genommen worden. Danke, Mama! Sie bemühte sich um einen harmlosen Gesichtsausdruck und fand beinahe zu ihrer alten Form zurück. Asher war eifersüchtig! Ja, sie hatte sich richtig entschieden und der Schalk saß ihr im Nacken, als sie sagte: »Julen ist schon süß!« Dabei beobachtete sie entzückt, wie sich Ashers Blick verfinsterte. »Er – kann sehr charmant sein.« Eine steile Falte entstand zwischen seinen Augenbrauen. »Und er ist ziemlich sexy!« Hatte sie gerade ein tiefes Grollen in Ashers Brust gehört? Estelle erkannte, dass sie mit dem Feuer spielte, und beschloss, den wichtigsten Punkt vorerst zu verschweigen. Nämlich, dass Julen darüber hinaus ausgezeichnet küsste. Stattdessen führte sie einen letzten und weniger verfänglichen Pluspunkt an: »Und man kann ihn nicht spüren!«
Die Stirn des Vampirs glättete sich erwartungsgemäß. »Das ist ein Vorteil?«
»Sein größter. Immerhin sorgt diese Eigenschaft dafür, dass meine Anfälle seit unserer ersten Begegnung viel seltener geworden sind. Es ist einfach nichts da, was sie auslösen könnte, nur Stille. Wunderbar!« Damit sah sie tief in seine Augen und ihre Stimme senkte sich. »Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich liebe ihn nicht!«
»Wie schade, das zu hören!« Estelle fuhr zusammen und schaute sich um. Julen lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen. Wie lange stand er schon dort?
Asher sah ihn ernst an. »Gut, dass du zurück bist. Wir sollten über deinen Auftrag sprechen.«
Julen hatte mit seiner Flucht nach Estelles wütendem Ausbruch rein intuitiv gehandelt, denn Ashers plötzliches Auftauchen hatte ihn mehr als nur ein wenig erschreckt. Äußerst beunruhigt war er in sein Quartier geeilt, um sich zu sammeln. Kieran bringt mich um, wenn ich sie jetzt im Stich lasse! Estelle mochte denken, was sie wollte, aber er musste sie beschützen. Vor dem anderen Vampir und wenn es sein musste, auch vor sich selbst. Also war er zurückgekehrt.
Um seinen Auftrag nicht zu gefährden, war es wichtig zu wissen, was dieses arrogante Mitglied ihrer aristokratischen Kaste plante. Und dies ging am besten, wenn er Asher nicht aus den Augen ließ. Verdammt, wie konnte er mich die ganze Zeit täuschen? Es schien ganz offensichtlich, dass Asher sich einmischen wollte, ohne mehr als unbedingt notwendig von sich selbst preiszugeben. Aber zum Pokern gehörten immer mehrere Spieler. Julen, der seinen Stammbaum problemlos bis zu den einflussreichsten Sippen der Dunkelelfen zurückverfolgen konnte, hob fragend eine Augenbraue. »Ich wüsste nicht, was dich mein Job angeht!«
»Sei nicht dumm. Die Zeit drängt und ich kann dir helfen, die Entführer zu finden.«
Estelle ballte ihre Fäuste. »Entführer? Ich dachte, wir suchen nach einem Grimoire. Was hast du mir noch verschwiegen?« Julen hätte sie küssen können, so süß fand er die wütende Fee. Doch weil ihre Frage berechtigt und jetzt auch nicht der passende Zeitpunkt für Komplimente war, ignorierte er ihren Einwurf und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Wie viel wusste Asher wirklich? Er sollte es erfahren.
»Wenn ich richtig informiert bin, ist unser Freund hier in einer geheimen Mission unterwegs.« Auffordernd sah er Julen an. Als dieser keine Miene verzog, fuhr Asher fort: »Seit geraumer Zeit verschwinden in einigen Städten auffällig viele junge Vampire. So genannte Streuner, die keine Familie und auch sonst niemanden haben, der sie ausbildet und beschützt. Irgendjemand scheint ihre Unerfahrenheit auszunutzen, um sie in eine Falle zu locken. So wie ich das sehe, ist das Problem viel zu lange unterschätzt worden.« Er sah zu Julen, der langsam nickte. »Besorgte Eltern eines geborenen Vampirs brachten den Stein schließlich ins Rollen. Sie gaben an, ihr Sohn sei mitten im Wandlungsprozess verschleppt worden. Andere wandten sich ebenfalls an den Rat, bis dieser Julen beauftragte, den oder vielleicht auch die Entführer zu finden.«
Estelle unterbrach ihn. »Verstehe ich das richtig, dieser Rat hat so lange nichts unternommen, wie es nur
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