Die Sternseherin
Brüder! Natürlich, jetzt erkenne ich es. Selena hat von dir gesprochen.«
Überrascht sah er sie an. »So groß finde ich unsere Ähnlichkeit eigentlich nicht.«
Das klang fast ein wenig eitel und entlockte ihr trotz der erschreckenden Neuigkeiten, die sie gerade Stück für Stück erfuhr, ein kleines Lächeln. »Nach dem, was du gerade über seinen Charakter gesagt hast, wundert mich deine Reaktion nicht. Vielleicht hast du recht, aber ihr besitzt die gleiche ungewöhnliche Augenfarbe.«
»Ein Teil unseres Familienerbes«, gab er zu. Oder ein Fluch. Ihre Beobachtungsgabe machte ihm Sorgen. »Was weißt du über uns?«
»Über euch als Familie oder als Gattung?«
»Wenn du es so ausdrücken möchtest, beides.«
»Selena hat gesagt, wir, also Feen und Vampire, seien über drei Ecken miteinander verwandt. Wir sind uns aber wegen irgendwelcher Vorkommnisse in der Vergangenheit nicht besonders grün und neigen zu kriegerischen Auseinandersetzungen, weswegen meine Schwester mit Kieran zusammen sein muss. Quasi als Friedensgarant. Euch nennt man auch Dunkelelfen, meine Mutter war eine Lichtelfe.«
»Die geborenen Vampire, zu denen meine Familie gehört – Julen übrigens auch –, mögen zwar die Bezeichnung Dunkelelf nicht, weil sie ungern an diese Verwandtschaft erinnert werden, aber sonst stimmt dieser Teil. Dass unsere Geschwister freiwillig zusammen sind, scheint jedoch kaum zu übersehen zu sein.«
Estelle dachte an die eindeutigen Geräusche, die sie aus dem Schlafzimmer der zwei gehört hatte, und verzog das Gesicht. »Allerdings, das muss man wohl annehmen.«
»Zurück zu dir. Ich glaube nicht, dass man diese Visionen mit einem Zauber in den Griff bekommen kann. Aber wenn es ein Grimoire gibt, dann finden wir es. Danach sehen wir weiter. Vertraust du mir?« Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, wie wichtig ihm ihre Antwort war.
Estelle war unsicher, was sie darauf antworten sollte. Hatte sie nicht eben noch geglaubt, Vampire zu hassen? Es stimmte schon, Julen hatte sie belogen. Aber was auch immer seine Gründe dafür sein mochten, dies war nicht geschehen, um ihr Blut zu rauben. Dazu hätte er häufiger Gelegenheit gehabt, als sie sich eingestehen mochte, und er hatte sie nicht ein einziges Mal genutzt. Von Asher hatte sie sich tatsächlich noch nie bedroht gefühlt, stellte sie überrascht fest. Im Gegenteil, sie fühlte sich in seiner Gesellschaft entspannt und war auf einmal sehr zuversichtlich, gemeinsam eine Lösung für ihre Probleme finden zu können.
Ihr war zwar immer noch rätselhaft, was ihre Schwester an Kieran fand, aber immerhin hatte der verschlossene Vampirkrieger ihr das Leben gerettet, und wann war Liebe schon logisch? Selenas Partnerwahl konnte ebenfalls getrost als ungewöhnlich bezeichnet werden. Werwölfe galten als unberechenbar und gewalttätig, Erik schien die Ausnahme zu sein. Was würdest du tun?
Diese Frage galt niemandem im Besonderen, deshalb war sie völlig überrascht, als jemand antwortete: Er sagt die Wahrheit. Vertraue ihm.
Mama? Estelle hätte schwören können, ihre Mutter gehört zu haben. Als sie kleiner war, hatte sie sehr oft mit dieser warmen Stimme in ihrem Kopf gesprochen, ihr von allen großen und kleinen Sorgen erzählt. Anfangs hoffte sie sogar, dass die Beraterin ihr sämtliche Entscheidungen abnehmen würde. Auch wenn es um so unbedeutende Kleinigkeiten wie die Auswahl des richtigen Bleistifts oder Kaugummis ging. Als sie älter wurde, lernte sie unter dieser liebevollen Anleitung jedoch, allmählich Vertrauen in ihre Intuition zu haben und selbst zu entscheiden. Vielleicht waren deshalb in den letzten Jahren die Zwiegespräche mit dem Geist ihrer Mutter immer seltener geworden, und Estelle hatte eines Tages verstanden, dass sie langsam in ihr eigenes Leben entlassen wurde.
Asher wird alles in seiner Macht stehende tun, um dir zu helfen, dein Schicksal anzunehmen.
Estelle wusste, dass dies ein ehrliches Versprechen war, und doch hakte sie nach. Welches Schicksal?
Ihre Mutter sandte eine sanfte Brise, die sie in Liebe und Vertrauen hüllte wie in eine weiche Decke, aber ihre Frage beantwortete sie nicht. Damit war dieser intime Moment vorüber und die Welt schien ein wenig kälter und einsamer zu sein.
Was hatte sie schon zu verlieren? Estelle nickte, erst zögerlich zwar, aber dann mit Nachdruck. »Vielleicht bin ich zu gutgläubig, aber ich hatte bisher keinen Grund, dir zu misstrauen.« Das Erstaunen über diese Tatsache war deutlich in
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