Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Leistungssportler. Das hatte Vanda immer schön gefunden. Dass er nie aufhören konnte. Als die Tusse ihn abschütteln wollte, dachte er, sie sei wahnsinnig erregt, und legte noch einen Zahn zu. Er quetschte sich so weit in sie hinein, wie es nur ging. Vanda hätte am liebsten die Tür zugeknallt, machte sich dann aber doch lautlos aus dem Staub. Sie floh. Aus der Toilette. Aus der Bar. Vor sich selbst.
Sie rannte durch die nächtlichen Straßen, durch den Park, erst an dem Riesenpendel auf der Letná-Höhe hielt sie an. Sie blieb dort lange stehen, mindestens eine Stunde lang. Während über ihr das Pendel leise hin und her schaukelte, starrte sie auf die leuchtenden Augen der Autos und Straßenbahnen unter ihr. Sie zog ihren kleinen Spiegel hervor, schüttete den Inhalt des Briefchens darauf und sog Carlos’ Stoff mit einem Strohhalm auf. Die Welt wurde schneller. Unter ihr und über ihr raste alles. Die Stadt. Das Pendel. Die Wolken. Die Flugzeuge. Sie hielt die Augen eine Weile geschlossen. Damit alles auf die ursprüngliche Geschwindigkeit zurückschrumpfte. Aber es wurde nicht besser.
»Vanda, ich liebe dich.«
»Hm.«
»Wir sehen uns noch, oder?«
»Leider. Heute Abend.«
»Vanda, sei mir nicht böse … Vanda, ich …«
Sie macht das Gespräch aus. Eine Weile starrt sie das Schaufenster voller Schuhe an. Neben den schwarzen Converse sind gelbe aufgestellt, daneben blaue. Alle mit kleinen goldenen Nieten geschmückt, die wie merkwürdig rautenartig geformte Sterne aussehen. Am Prager Himmel sind nie Sterne zu sehen. Vielleicht sehen sie eben so aus. Wie kleine goldene Rauten. New line by Converse.
Auf einmal erblickt Vanda ihr Spiegelbild. Sie fährt mit den Fingern durch ihre neue Frisur und schiebt eine Strähne zur Seite, die in ihr Gesicht gerutscht war. Hat Michal vielleicht mehr als nötig abgeschnitten? Der Scheitel hätte ruhig einen Zentimeter länger bleiben können. Oder?
Sie zupft an ihren Haaren. Checkt ihr Abbild im Schaufenster. Dann bemerkt sie, dass sie sich auch in den kleinen Spiegeln im Ladeninneren widerspiegelt. Passanten, die hinter ihr die Straße entlanggehen, verwandeln sich in bunte, rasch entworfene Pinselstriche. Vanda steht vor dem Schaufenster und sieht eine, fünf, zehn Vandas vor sich. Sie wird breiter und verschwindet gleichzeitig. Sie kommt sich durchsichtig vor. Nackt. Einsam. So könnte es sich anfühlen, wenn man tot ist.
Sie spürt Tränen in den Augenwinkeln. Gut, dass sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt hat. Das ist wirklich das Letzte. Wegen eines solchen Arschlochs heult man doch nicht. Sie waren erst fünf Monate zusammen, das ist doch nichts. Er ist nicht ihr Erster! Und er wird auch nicht ihr Letzter bleiben! Sie hat sich einfach nur zum ersten Mal richtig verliebt. Und hat ihm vertraut. Sie kann doch zehn solcher Knilche pro Abend haben. Klar, sie weint, aber das kommt vom wenigen Schlaf. Außerdem kriegt sie morgen ihre Tage und ist einfach ein wenig überempfindlich, das werden die Männer nie nachvollziehen können, weil sie selbst keine Tage haben.
Sie wischt sich die Tränen ab. Fährt mit rotem Lippenstift ihre Lippen nach. Immer, wenn sie allein sein will, wenn sie sich von der Welt ringsherum abschneiden und in sich ein bisschen Stille finden will, macht sie Musik an. Placebo.
If it’s a bad day, you try to suffocate.
Another memory … scarred.
If it’s a bad case, then you accelerate,
You’re in the getaway … car.
Diese Band hat sie während ihres Aufenthalts in Großbritannien lieb gewonnen. Sie war ein Jahr lang in Glasgow auf eine Privatschule gegangen. Das hatte ihr Vater arrangiert. Und bezahlt. Sie lernte dort Englisch und legte den ersten Jungen flach. Mark. Beziehungsweise er legte sie flach, obwohl sie sich das andersherum gewünscht hätte, sie ist ja lieber obenauf. Mark war in der Klasse über ihr, hatte rote Haare und Sommersprossen und eigentlich mochte sie ihn nicht besonders. Er und seine Clique fuhren häufig übers Wochenende ans Meer und nahmen Vanda mit. Einmal besuchten sie seine Tante auf einem Gutshof und verliefen sich dort im Nebel zwischen Hügeln und Schafen. Als die Geschichte zwischen Mark und ihr zu Ende war, rettete ihr Placebo zum ersten Mal das Leben. Wie etliche Male danach auch.
Vanda möchte wenigstens ein Lied komponiert haben, das den Menschen im richtigen Moment den richtigen Kick gibt. So was ist echte Kunst. Darin liegt für sie auch die Kraft und Stärke der Musik. Des Lebens.
You don’t
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