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Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Titel: Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaroslav Rudis
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und Blätter mit Stromlaufschemata. Vladimír untersucht Geräuschfrequenzen, die er an verschiedensten Stellen der Stadt aufnimmt und in Klangkonserven einkocht, genauso wie seine Mutter einst Gurken oder Pfirsiche eingekocht hat.
    Vladimír sammelt Lärm, den Autos von sich geben, Lärm aus Radiosendern, Presslufthämmern und Betonmischmaschinen, Lärm, den Straßenbahnen, Metro, Flugzeuge und Menschen absondern. In seinem Computer ist jedes Geräusch gespeichert, das man sich nur vorstellen kann. Man findet dort fiepende Spielautomaten und plätschernde Springbrunnen, das Tosen des Moldauwehrs vor der Karlsbrücke und das Quietschen aufblasbarer Puppen in Erotikgeschäften. Vladimír hat auch das Säuseln der sprechenden Schaufenster, das metallische Rauschen der Fahrstühle und den Lärm von Rockclubs, Diskotheken und Kneipen zwischen Wenzelsplatz und Žižkov aufgefangen. Das laute Reden der deutschen und britischen Kunden in den Etablissements. Den schnellen Wortwechsel des russischen und ukrainischen Personals. Die abgehackten Atemstöße der schnellen Umarmungen, den heftigen Höhepunkt.
    Vladimír hört auch das, was über das übliche menschliche Hören hinausgeht. Das Rauschen der Mobiltelefone, der Fernsehsender, des Rundfunks. Das Summen in den Trafostationen und Schaltanlagen. Das Herunterfahren des Motors in einem soeben eingeparkten Auto. Vladimír hört sogar das Licht knistern, kurz bevor der Strom die Straßenlaterne erreicht und sie zum Leuchten bringt. Er hört die Spannung in der Wasserleitung, bevor zwei Sekunden später das Wasser durchrauscht. Er hört das Pendel auf der Letná zucken, noch lange bevor es sich bewegt.
    Spielt er zu Hause all die Geräusche auf einmal ab, wird ihm klar, warum die Stadt so leidet. Warum er so leidet. Die Stadt trifft keinen sauberen Ton, sie schrammelt, dudelt und krächzt wie ein Orchester mit betrunkenen Spielern, die weder Talent noch Gefühl oder musikalisches Gehör besitzen.
    Die disharmonische Symphonie der kranken Großstadt verschlägt Vladimír den Atem. Schon früher hat er nichts für Neue Musik übrig gehabt, am schlimmsten fand er die disharmonischen Stücke, er konnte sie nur unter größter Selbstüberwindung spielen, er glaubte nicht, dass das Publikum wirklich dem Kampf von Klängen zuhören wollte anstatt den Klängen selbst, er verstand weder den Applaus noch das Lächeln oder die ernsthaften Mienen der Männer im Anzug und ihrer eleganten Frauen, er glaubte nicht, dass jemand Gefallen finden konnte an einer Schlacht zwischen Tönen und Gegentönen, zwischen Rhythmen und Gegenrhythmen.
    Ihn selbst hat es immer nach Ausgewogenheit, nach Harmonie verlangt. Nach Harmonie in der Musik, im Leben und in der Beziehung, auch wenn er und seine Frau sich meist angeschwiegen haben, woran nicht nur ihre Krankheit Schuld trug. Sie hatten aufgehört, sich zu verstehen. Wenn Vladimír über das immer häufigere Dröhnen in seinen Ohren klagte, sagte sie, er sei wie alle Männer ein Hypochonder. Und unfähig noch dazu. Er hätte nie genug Geld herangeschafft, alles wäre nur an ihr hängen geblieben, inklusive Kindererziehung.
    Als die ersten Anzeichen ihrer Krankheit auftauchten, als ihr Blut dünner wurde und ihre Haut heller, da hätte er ihr die Beleidigungen heimzahlen können. Er tat es aber nicht.
    Die Ursache für ihre Krankheit fand sie selber heraus. Sie beschwerte sich über den unerträglichen Lärm, der von draußen die Wohnung bestürmte. Über den Lärm, den die Nachbarn produzierten. Über Lärm, der sie von allen Seiten einkreiste und attackierte. Vladimír erklärte ihm den Krieg und machte sich daran, die Wohnung hermetisch abzuschotten.
    Abends saß er neben seiner Frau am Bett, hielt ihre Hand und sah ihr in die Augen. Er redete auf sie ein. Las ihr Bücher vor. Erzählte, was er draußen gesehen hatte, wen er in dem Vietnamesen-Laden getroffen und was er dort eingekauft hatte, wie das Wetter war und wie es werden würde. Sie lächelte ihn an. Hörte ihm zu. Aber sie sagte kein Wort. Als ihr Zustand sich verschlechterte, nahm er zwei Papierbögen und schrieb auf den einen JA und auf den anderen NEIN . Dann fragte er, ob sie ins Krankenhaus wollte. Sie hob ihre dünne Hand und zeigte auf NEIN . In dem Augenblick wurde ihm seine große Liebe zu ihr bewusst, es war der bedeutendste Moment ihres gemeinsamen Lebens, alle Missverständnisse waren ein für alle Mal vergessen. Er wechselte das Schmerzpflaster auf ihrer Schulter, fasste erneut

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