Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Pumps in den Müll werfen und barfuss nach Hause gehen.
Vor dem Ausgang muss sie kurz stehen bleiben. Eine arabische Familie kommt ihr durch die Drehtür entgegen. Ein Mann mit einem Schnauzbart und einer dunklen Brille, ein paar Schritte hinter ihm zwei ganz in Schwarz gehüllte Frauen. Nur ihre Augen sind zu sehen. Und ihre Hände, an denen sie die Kinder halten. Hana schießt der Gedanke durch den Kopf, sie könnte auch eine von ihnen sein. Sie senkt den Blick.
Das erste Mal hat sie den Flughafen bei einem Schulausflug besichtigt. Sie kamen nach Prag, haben sich das Nationaltheater angesehen, das Kaufhaus Kotva und dann den Flughafen. Pausenlos rannten sie immer wieder durch die große Glastür, die automatisch wieder und wieder vor ihnen auf und zu ging. Etwas Ähnliches hatten sie noch nie gesehen. Ob es die einzige Automatiktür in dem damals noch abgeriegelten Land gewesen war?
Damals hatte ihr der Geruch von Prag gefallen. Es war eine bunte, laute und schöne Großstadt mit eleganten Kaufhäusern, breiten Straßen und Hotdogs, die es bei ihnen im Grenzland nicht gab.
Jetzt ist Prag alles Mögliche für sie, nur keine wohlriechende, schöne, bunte und große Stadt. Groß und schön kann Prag nur den hiesigen Knödelfressern vorkommen, die nie irgendwo anders gewesen sind.
Die Taxifahrer da drüben zum Beispiel: kurze Hose, weiße Socken, Sandalen und Kapuzenjacken. Einer von ihnen kratzt sich gerade zwischen den Beinen. Willkommen im Pimmelland. Obwohl Hana zehn Meter von ihm entfernt steht, nimmt sie seinen Schweißgeruch wahr. Heute kommt es ihr allerdings nicht so schlimm vor. Heute fühlt sie sich stark. Ruhig. Positiv aufgeladen.
In Prag fährt sie grundsätzlich kein Taxi. Diese Hornochsen wird sie nie und nimmer unterstützen. Sie nimmt den Bus.
An der Haltestelle stehen bereits einige ihrer portugiesischen Mitreisenden. Von Rucksäcken und Koffern umgeben, mit Stadtplänen von Prag in der Hand, lächeln sie Hana an und sie lächelt zurück, als würden sie sich seit Jahren kennen. Eine fünfzigjährige Portugiesin bittet Hana auf Englisch, ein Foto von ihr und ihren Freunden zu machen.
Mit ihren digitalen Kameras schneiden die Touristen Prag – und ebenso alle anderen alten Städte Europas – in kleine Stücke, die sie auf ihren winzig kleinen Speicherkarten nach Hause tragen. Wie viele Fotos passen auf eine Karte? Tausend? Oder Zehntausend? Ob sie sich die Fotos überhaupt noch ansehen? Vermutlich nicht. Prag befindet sich heute zerstückelt auf Abermillionen von Digitalfotos, die für immer in der Versenkung der Festplatten verschwinden.
Sie selbst fotografiert nie auf Reisen. Sie versucht alles in ihrem Kopf zu speichern. Nicht nur Straßen, Caféhäuser und Sehenswürdigkeiten, sondern auch Farben und Gerüche, denn jede Stadt hatte ihren eigenen Duft. Oder Gestank.
Wegen der Touristen zerfällt Prag immer mehr. Es leert sich immer schneller. Was der Kommunismus und der Kapitalismus unberührt gelassen hatten, wurde vom Massentourismus um die Ecke gebracht. Es fällt bloß keinem auf, weil es ohne Blutvergießen und ohne Folter stattfindet. Eines Tages wird Prag zu einem leeren Poster an der Wand geworden sein und die Touristenhorden werden zu anderen Zielen ausschwärmen.
Der Bus kommt. Alle drängen hinein. Unterwegs werden sie nach frischer Luft japsen. Hana kramt ihren iPod hervor und blickt aus dem Fenster, vor dem Plattenbauten und alte Villen aus der Zwischenkriegszeit defilieren.
Sie freut sich auf zu Hause.
Sie wird ein Trägertop und Jeans anziehen. Ihre alten Adidas-Schuhe suchen. Vielleicht findet sie etwas in ihnen, was sie meint, verloren zu haben, eine Art Gefühl. Freiheit. Berlin. Lissabon. La petite mort.
Und dann wird sie in den Letná-Park gehen. Einer der wenigen Orte, die sie in Prag wirklich liebt und die sie vermissen würde. Die Letná-Höhe über der Moldau. Wo es sich manchmal sogar lohnt, ganz allein zu sein. Oder zu zweit. Laut zu sein. Oder ganz leise.
HINTER DER WAND
D ie Polen reden ohne Punkt und Komma.
Wayne schweigt. Er starrt vor sich hin. Er sieht durch die Köpfe der Polen hindurch. Hinter die Wand dieses teuren Hotels, das in einer Straße steht, in der sich das größte Bordell von Prag befindet, das jede Nacht vor besoffenen britischen Touristen aus allen Nähten platzt. Nicht weit von hier steht auch eines der berühmtesten Theater der Stadt, in dem im November 1989 die Revolution geboren wurde, so hat es zumindest die Kleine
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