Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
nach ihrer Hand und hielt sie die ganze Nacht fest. Er hörte zu, wie der Tod leise in ihrem Körper Einzug hielt, wie er wie eine Welle immer näher kam, beharrlich immer weiter nach vorne drängte, ähnlich wie die Flut, wenn sie den Strand erobert. Bis die immer kälter werdenden Meereswellen die Seele seiner Frau weggespült haben.
Als am nächsten Morgen ein Arzt mit dem Stethoskop die leere Stille ihres Herzens festgestellt hatte, drückte er ihm voller Anteilnahme die Hand, sah dabei aber statt Vladimír das Bild an der Wand an. Schon einen Tag später stand Vladimír mit dem Mikrofon in der Hand auf der Straße. Er wurde selbst zum Mikrofon. Zum riesigen Mikrofon auf zwei Beinen, das die ganze Stadt in sich hineinsaugte. Schritt für Schritt. Ein Geräusch nach dem anderen.
Im Kopf und auf dem Computerbildschirm untersucht Vladimír die Frequenzen und Gegenfrequenzen. Er weiß, dass die Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist, aber da sie einst im Einklang mit sich selbst war, könnte sie wieder in diesen Zustand zurückfinden. Außerdem weiß er, dass sich der Lärm mit unsichtbarem Gegenlärm bekämpfen lässt, mit einem schnellen und wirksamen Fluss von Gegenfrequenzen, einem Gegenschall, der den Lärm zerschlägt, verschluckt und zur Stille bekehrt.
Er macht es nicht für sich. Er tut es für das Haus, in dem er wohnt. Für seine Stadt, für das Land und für diesen Planeten. Für das Universum.
Das Gerät, das Vladimír erfunden hat, funktioniert. In seiner Wohnung herrscht Stille. Zumindest im Wohnzimmer, das zum Labor umgewandelt wurde. Vladimír überprüft das jeden Morgen, bevor er sich mit der Schere in der Manteltasche auf die Straße begibt. Er hört die Stille jeden Abend, wenn er aus der Stadt zurückkommt.
In seiner Wohnung funktioniert das Gerät zuverlässig, außerhalb der Wohnung leider nicht. Den Grund dafür kennt Vladimír nicht, womöglich ist die Antenne am Fenster zu klein oder der Sender zu schwach, womöglich hat der Straßenlärm eine gewisse Schallgrenze erreicht oder die Stadt ist bereits zu schwer erkrankt und lässt sich nicht mehr retten.
Die Stadt klagt weiter. Vladimír sieht keinen Ausweg mehr. Nur noch Kapitulation. Inklusive Verzicht auf jegliche Hoffnung. Man muss den Tatsachen ins Auge blicken, denkt Vladimír. Deswegen gibt er heute auf. Er fühlt sich müde und ahnt, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist. Heute unternimmt er einen letzten Versuch. Allerdings nicht mehr für die Stadt, sondern für sich selbst.
SCHRUMPELKASTANIEN
D as Einzige, was Petr an seiner Arbeit Spaß macht, ist die Stadt, durch die er sich mit seiner Straßenbahn den Weg bahnt. An die Gleise gefesselt, tastet die Tram die Stadt ab, untersucht sie unter der stinkenden Smoghülle, die wie ein ewiger Deckel über Prag liegt. Sobald Petr die Anhöhe vom Weißen Berg hinter sich lässt, verschwindet er einem U-Boot gleich unter der gelblichen Wolke.
Auch die Stadtbewohner mag er gerne, vor allem die etwas heruntergekommenen. Schrumpelkastanien nennt er sie. Ein paar von ihnen kennt er schon. Zum Beispiel den Rentner mit der dicken Hornbrille, der am Stadtrand in Hostivař einsteigt, Sonderangebote studiert und bis ins Zentrum auf die Národní fährt, um sich im Kaufhaus Tesco auf Schnäppchenjagd zu begeben. Oder die zwei Mädchen, Zwillinge, die jeden Tag in der Früh von Vršovice zu ihrer Schule auf Náměstí Míru fahren und während der ganzen Fahrt pausenlos und ohne Grund kichern. Sein absoluter Liebling ist allerdings eine Frau um die fünfzig, die Tag für Tag Punkt zehn an der Prager Burg in die Straßenbahn steigt und von dort quer durchs Zentrum bis zur Metrostation I. P. Pavlova und wieder zurück fährt. Das macht sie den ganzen lieben langen Tag. Dabei stromert sie im Waggon herum und wiederholt gebetsmühlenartig: »Ich danke dir, mein himmlischer Vater, ich danke dir für die Fische, für die Pflanzen und die Meerestiere. Danke, dass es dich gibt. Führe uns nicht in Versuchung. Ich danke dir, mein himmlischer Vater. Für die Berge, für die Wälder, für die Ozeane, für uns alle …«
Dann gibt es noch die Baseballkappen. Und die kleine Rumänin. Die schöne Rumänin, mit der er liebend gerne ins Bett steigen würde.
Petrs Zweiundzwanzig zuckelt langsam hinter einer Vier her, vom Náměstí Míru bis zur I. P. Pavlova. Der Waggon hinter Petr ist proppenvoll, Malmö knurrt zwei Studentinnen an, die an der Treppe zur Vordertür stehen. Sie klopfen an die Glaswand der
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