Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
ausländische Kost.
Vladimír tritt ein.
Er bestellt einen Espresso und ein Mineralwasser. Die Serviererin sieht nicht gerade freundlich aus. Vielleicht bezieht sich ihr sauertöpfischer Gesichtsausdruck auf Vladimírs altmodischen Mantel. Solche braunen Überzieher trägt man nicht mehr. Zumindest nicht in diesem Restaurant.
Er sitzt in der Ecke, um den ganzen Raum im Blick zu behalten. Direkt über ihm hängt ein kleiner schwarzer Lautsprecher. An der Wand gegenüber ein zweiter. Das Restaurant ist fast leer, die Mittagszeit ist vorbei, alle sitzen wieder in ihren Büros und werkeln an ihrer Karriere herum.
Die Serviererin sieht ihn noch einmal prüfend an. Vielleicht findet sie ihn alt und gammelig. Mag sein. Er weiß es nicht. Aber auch sie wird eines Tages alt sein. Jetzt ist sie um die zwanzig, genau wie seine Tochter, in fünf Jahren bekommt sie die ersten Falten im Gesicht und ihre Brüste fangen an zu welken.
Als die Frau in der Küche verschwindet, sieht Vladimír sich um. Die wenigen Gäste sind mit ihrem Essen beschäftigt, der Mann an der Theke poliert die Gläser und wendet Vladimír den Rücken zu. Perfekt. Vladimír tastet nach dem Brillenetui in seiner Manteltasche und holt das Skalpell hervor. Für dickere Kabel taugt es besser als die Schere. Er steigt auf den Stuhl. So kommt er wunderbar an den Lautsprecher heran. Er tastet nach dem Kabel und schneidet. Dreht sich um. Keiner hat ihn bemerkt. Er geht zu der gegenüberliegenden Wand. Stellt sich auf den Stuhl. Greift nach dem Kabel. Schneidet. Auf einmal ist es still. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Wie schön. Vladimír erschauert vor Wonne.
Er blickt um sich. Der Barmann starrt ihn an, Glas und Geschirrtuch in der Hand. Auch für ihn scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Als wäre er kein lebendiger Mensch, sondern eine Schaufensterpuppe, die für ein glückliches Leben mit Geschirrtüchern und Gläsern wirbt. Genauso unecht sieht auch die Serviererin aus, die mit einem Tablett in der Hand im Türrahmen erstarrt ist. Erstarrt sind auch die Gäste. Sie glotzen Vladimír an, als sei er ein Monster, als befänden sie sich in einem Albtraum. Vladimír steckt das abgeschnittene Stück Kabel in die Tasche und steigt vom Stuhl.
»Mann, was soll das denn …«
Der Barmann ist endlich aufgewacht.
»Hey Mann, was soll der Scheiß, ey?«
Die Serviererin schüttelt den Kopf.
Die Gäste glotzen.
Vladimír rührt sich nicht.
Das Gesicht des Barmanns läuft rot an und wird immer größer, bald ähnelt sein Kopf einer geschälten Melone. Vladimírs Frau liebte Melonen. Zum Schluss waren sie das Einzige, was sie essen konnte.
Das orangefarbene Hemd spannt dem Barmann an der Brust, schon wieder einer von den überflüssigen Muskelprotzen, die am Wochenende am liebsten mit den Hanteln schmusen. Die Serviererin flüstert: »Ruhig bleiben, Tommi, nicht aufregen«, sie zupft an seinem Ärmel und fragt, ob sie die Polizei rufen solle.
Vladimír fühlt sich immer noch gut. Er sagt, das hätte er für sie alle gemacht. Für sie, für ihn selbst und für die Stadt.
»Wie für uns? Wie für dich selbst und für die Stadt? Was soll das Gequassel?«
Eines Tages würde der Barmann schon verstehen, erwidert Vladimír, alles brauche seine Zeit und er, Vladimír, komme natürlich für die Rechnung auf. Hauptsache, sie lassen ihn in Ruhe gehen.
»Du bist krank, weißt du das? Psychisch krank. Ab in die Klapse mit dir. Am besten gestern.«
Vladimír gibt ihm recht, gestern, womöglich auch vorgestern, jetzt sei es bereits zu spät, die Welt könne man nicht mehr retten, aber darüber möchte er mit dem Barmann nicht diskutieren, er, Vladimír, wisse schon, was er tue.
»Einen Scheißdreck weißt du! Du bist krank, Mann, einfach krank«, schreit der Barmann.
Vladimír zückt einen Tausender und legt ihn auf die Theke. Zeit zu gehen. In der Tür stößt er mit zwei Ausländern zusammen. Beide tragen kleine weiße Kopfhörer in den Ohren.
»Smokers or nonsmokers?«, hört er noch die Stimme der Serviererin, dann steht er schon auf der Straße.
Die erste Schlappe seit Jahren. Scheint ein Zeichen zu sein. Ausgerechnet am heutigen Tag, an dem er sowieso Schluss machen will. Ein Zeichen dafür, dass der Brand nicht mehr zu löschen ist, dass alles verloren ist. Die Stadt. Die Menschen. Ganz Europa. Die Welt. Das Universum. Alles geht dem Ende entgegen. Eigentlich müsste er sich aufregen oder wütend werden, doch auf einmal fühlt er eine sonderbare
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