Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Ruhe.
Jetzt kann er umkehren, beim Vietnamesen in seiner Straße den Wodka holen, nach Hause gehen. Dann schneidet er sich von allen und von allem ab. Die Welt soll sich selbst helfen.
GEFÜHLE
S tation I. P. Pavlova. Nirgendwo steigen so viele Leute aus und ein wie hier. Verschwitzt stolpern sie raus. Frisch klettern sie rein. Alles muss schnell gehen, bloß nicht grübeln. Die Straßenbahnen stehen dicht aneinandergepresst wie beim Gruppensex. Vielleicht ist es das, was Hrouda so anmacht. Auf jeden Fall nimmt ihn die tägliche Tramsession auf der I.P.Pavlova richtig mit. Petr hat einmal beobachtet, wie Hrouda hier einen ganzen Tag lang gestanden und fotografiert hat. Keine Frauen. Straßenbahnen.
Die Anzeigetafel springt um auf frei. Auf dieser Kreuzung leuchten die zwei weißen Punkte übereinander nie länger als eine Minute. Petr muss sich beeilen.
Er klingelt, löst die Bremse, tritt aufs Pedal und schießt mit seiner Zweiundzwanzig über den Schnellring. Die ununterbrochen mit Autos vollgestopfte Fahrbahn mit einem Schienenfahrzeug zu überqueren ist jedes Mal ein Glücksspiel. Mindestens einmal im Monat knallt ein nervöser Fahrer mit seinem aufgemotzten Riesenschlitten direkt in eine Straßenbahn. Oder ein Straßenbahner bremst nicht rechtzeitig ab und zerkratzt bei einem ungeduldigen Autofahrer den Lack an der Seite.
Petr verlangsamt. Er wird wieder ruhiger. Der wildeste Abschnitt der ganzen Strecke liegt hinter ihm. Der einzige wilde Abschnitt, könnte man fast sagen. Im Radio läuft schon wieder Fußball, Petr schaltet auf Musik um. Joy Division . Er raucht. Vielleicht ist er gerade glücklich, vielleicht sogar richtig glücklich. Vielleicht ist das Glück groß wie eine Filterzigarette und währt auch nur so lange, wie die Zigarette brennt und der Rauch den Mund, die Lunge und die Nase füllt.
Zumindest hat bisher kein Glücksgefühl länger als ein paar Minuten gedauert, das weiß Petr genau. Hat es länger gedauert, war es kein echtes Glück. Man redet sich gerne Glück ein, täuscht es vor, wartet ergeben, dass es auftaucht, und sieht ungläubig zu, wenn es wieder geht. Eine Zigarettenlänge. Vier Minuten. Das war’s. Es ist nicht viel. Aber auch nicht wenig. In einer Schachtel sind allerdings nur zwanzig Zigaretten, man sollte sie sparsam einsetzen.
Das Glück stellt sich genau für diese vier Minuten ein, man muss aber auch nach ihm greifen. Unglück kommt schneller, da genügt manchmal eine einzige Sekunde, ohne dass man sich großartig bemühen müsste.
Petr raucht, hört Musik und tuckert langsam die Straße herunter, um die Vier vor ihm nicht anzufahren. Auf der Gegenfahrbahn staut sich der Verkehr. Er beobachtet die Frauen am Steuer. Eine reckt den Hals, um im Rückspiegel ihr Make-up zu überprüfen. Eine andere telefoniert und trommelt mit den Fingern ungeduldig auf das Lenkrad. Eine dritte hält lässig die Hand mit brennender Zigarette aus dem Fenster. Ihre Blicke begegnen sich kurz. Ob auch sie in dieser Sekunde glücklich ist?
Ein Plakat auf der Litfaßsäule lädt zu einem Konzert ein:
U-BAHN. KILL THE BARBIE. AKROPOLIS PALAIS
Vielleicht sollte er dort heute Abend vorbeischauen, auf ein Bierchen oder zwei. Martin und Egon sind bestimmt da, die lassen kaum ein Konzert ausfallen. Sie haben sich seit einer Woche nicht gesehen, da gibt es bestimmt ein paar Neuigkeiten auszutauschen. Vielleicht laufen ihm da auch ein paar nette Weiber über den Weg.
Er denkt an Vanda. Sie wird auch da sein. Im Bett war sie etwas steif, wie die meisten jungen Mädchen. Ganz begierig auf eine neue Erfahrung, gehen sie anfangs wie ’ne Rakete ab, um sich später mühsam und mit geschlossenen Augen dem Ende entgegenzuquälen. Da hat Petr bereits das Bild von einer anderen bemühen müssen. Von einer, mit der es immer ganz toll geklappt hat. Aber auch so ist es mit Vanda schön gewesen, sie schien einen Song in sich zu tragen, ein Lied, das in ihr zu spielen anfing. Dann hörte sie endlich auf, an seinem Ohr zu nuckeln. Und seufzte nicht mehr.
Petr steuert die Straßenbahn und küsst erneut das Muttermal zwischen Vandas Brüsten. Für einen Moment muss er an die Frau denken, die an der gleichen Stelle auch ein Muttermal hatte.
Petr sitzt am Steuer der Straßenbahn und ist traurig, als er an Klára denkt, an die ihn Vanda erinnerte. Er lässt in Gedanken die gestrige Nacht Revue passieren. Sie haben gemeinsam einen Joint geraucht und vom Fensterbrett aus den blau-weiß-rot leuchtenden Fernsehturm
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