Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Auf der Straße fühlt sie sich für ein paar Sekunden von der Sonne geblendet. Es ist warm. Auf der Letná-Höhe ist der Sommer noch nicht vorüber.
DIE KABEL
D ie Stadt braucht ihn, das weiß er. Diese Stadt, die sich jeden Morgen über ihm zusammenkrümmt und vor Schmerzen ins Gesicht stöhnt, dass er sich die Ohren zuhalten muss. Eine Stadt, die schon vor Europa existiert hat, die in Europa liegt und möglicherweise zusammen mit Europa untergehen wird, denn Europa beginnt allmählich, an allen Enden zu brennen.
Vladimír hört das. Er hört das Feuer kommen. Er hört, wie Streichhölzer angerissen werden, wie Benzin verschüttet wird und wie Sprengstoff am Körper von Selbstmordattentätern explodiert. Vor Europas Toren brennt es. Im Irak. Im Iran. In Afghanistan. Es lodert in Nordafrika. Es brennt in London, Paris, Berlin und anderen westeuropäischen Städten. Bald wird auch Mittel- und Osteuropa lichterloh brennen, überall wird es Brände geben, die ganze Welt wird bald Feuer fangen, um schließlich in stummem Entsetzen über die eigene Unfähigkeit in sich zusammenzubrechen. Wenn Europa nicht vorher aufwacht. Wenn Europa es nicht schafft, sich selbst zuzuhören.
Vladimír schlendert durch die Straßen.
Er passiert einen Elektrotechnikladen. Im Schaufenster laufen auf zehn Bildschirmen gleichzeitig die Nachrichten. Irak. Zwei amerikanische Soldaten schleppen auf einer Trage ihren verletzten Kumpel. Irak brennt. Europa brennt. Amerika brennt. Ein Flächenbrand, der gerade jetzt stattfindet, in direkter Übertragung und von allen unbemerkt, hier, direkt vor ihm, mitten in diesem romantischen, ruhigen und von Touristen heiß geliebten Prag brennt es auf zehn Bildschirmen gleichzeitig, auf Bildschirmen, die so flach sind wie Bilder in einer Galerie. Jeden der Fernseher kann man auf Raten kaufen. Zehn Prozent sind direkt im Laden zu zahlen, den Rest stottert man innerhalb von elf Monaten ab. Wie günstig. Eines Tages wird man auch Menschen auf Raten kaufen können, gut möglich, dass so etwas bereits jetzt möglich ist, dass Sie sich in Rumänien ein Kind auf Raten besorgen können, sollte es bei Ihnen und Ihrer Frau in London oder Paris nicht klappen.
Europas Ränder brennen und bald wird auch die Mitte der Welt Feuer fangen. Keiner sieht es, weil die Fernseher stumm bleiben, obwohl sie in voller Lautstärke schreien.
Es besteht Handlungsbedarf, denkt Vladimír. Er muss die Menschen wachrütteln. Sie von ihrer tödlichen Taubheit befreien. Einer Taubheit, die den Menschen sich selbst entfremdet. Er muss den Menschen das Hören beibringen. Die Fähigkeit, sich selbst zuzuhören.
Aber heutzutage will keiner etwas lernen. Alle haben Angst vor der Einsamkeit. Deswegen läuft überall Musik. Man steht zum Geplapper aus dem Radio auf und schläft mit seichtem Fernsehgeschwätz ein. Unterwegs zur Arbeit stöpselt man sich Musik in die Ohren. Die Menschen haben die Fähigkeit verloren, allein zu sein.
Vladimír sieht sich um. Auf der anderen Straßenseite sieht er eine zierliche junge Frau mit schwarzem Schopf. Sie lehnt an der Wand und hört Musik, die Kopfhörer stecken tief in ihren Ohren. Sie wirkt traurig, irgendwie verstört. Ihre Augen versteckt sie hinter einer schwarzen Brille, aber Vladimír weiß, dass sie ihn beobachtet. Vielleicht hätte auch sie seinen Erweckungsdienst nötig. Er geht weiter. An einem Büro vorbei, das für ein Leben im grünen Paradies der Stille wirbt. Aus einer unterirdischen Garage schießt ein Auto heraus, es fehlt nur wenig und der Wagen hätte Vladimír angefahren. An der Straßenecke dreht er sich um. Die junge Frau ist verschwunden.
Aus dem Thai-Restaurant neben ihm quillt Musik, eine verzweifelt synthetische Klimperei mit Ethno-Einschlag. Seelenlose Leere. Aus der Küche weht ihm ein süßlich-scharfer Geruch entgegen. Früher, als er mit dem Orchester auf Tournee war, mochte er es, die jeweils landesüblichen Speisen zu probieren.
In Thailand bescherte ihm diese Leidenschaft einen dreitägigen Durchfall, Reis mit rotem Curry war offensichtlich nicht das richtige Essen für ihn, aber bis zu dem Auftritt vor dem König war er wieder auf den Beinen. Der klebrige japanische Reis mit Fisch verursachte ihm eine dreitägige Verstopfung, aber die Konzerte in Tokio und Yokohama überstand er gut. Seine Frau und er haben später sehr darüber lachen müssen. Von jeder Tournee brachte er Kochbücher mit, doch besonders häufig hat er sie nicht benutzt. Seine Frau mochte keine
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