Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
der Fahrkartenkontrolle an. Das gehört nicht zur Inszenierung. Sie umringen die Rumänin und wollen ihre Fahrkarte sehen. Personalausweis oder Reisepass. Sie drohen mit der Polizei. Das Mädchen schnellt hoch, zieht die Falttür auseinander und hüpft hinaus.
Draußen hört man das Quietschen von Bremsen. Etwas prallt gegen die Straßenbahn. Der Waggon gerät ins Wanken, entgleist aber nicht. Petr hält an.
Die Touristen drücken sich die Nasen an den Fensterscheiben platt, ein paar Japaner fotografieren wie wild das Geschehen.
Malmö bellt. Petr läuft es kalt den Rücken herunter. Er macht die Musik aus und starrt vor sich. Die Haltestelle, an der er hätte halten sollen, ist nicht weit, die Leute, die dort warten, glotzen ihn an, als wäre er es, der den Unfall verursacht hat. Er muss aussteigen und nachsehen, was passiert ist. Aber er kann nicht. Drei lange Sekunden kann Petr sich nicht rühren.
DIE LETNÁ-HÖHE
I ch muss dir was erzählen.«
»Alles in Ordnung, meine Süße?«
»Nein. Ja. Schon.«
»Was Schlimmes?«
»Etwas aus Lissabon. Hast du Zeit heute?«
»Ja. Hab übrigens auch was zu erzählen. Wann machst du Feierabend?«
»Hab heute frei.«
»Um sechs?«
»Bei unserem Thai?«
»Warum nicht, was Scharfes tut gut.«
»Klasse.«
»Tschüss.«
»Tschüss, meine Süße. Ich freu mich.«
»Ich mich auch. Total.«
Meine Süße. Seit wann reden sie sich so an? Hana und Milena, die beiden Süßen. Seit der gemeinsamen Zeit im Wohnheim, ja, also seit zehn Jahren etwa. Damals kam es ihnen oberwitzig vor. Mittlerweile dürfte es etwas infantil klingen – bei zwei dreißigjährigen Frauen. Fast dreißigjährigen.
Hana fröstelt. Sie macht ihre Jacke zu. Sie steht auf der steinernen Terrasse der Letná und beobachtet die weißen Wolkenberge, die der Wind über die Stadt jagt. Der Himmel ist zwar blau, aber der Sommer geht heute zu Ende. Der Herbst zieht ein. Auch wenn von ihm bis jetzt noch nichts zu sehen ist, spüren kann man ihn schon. Alles ist langsamer und müder als noch vor ein paar Wochen. Das Gras ist von der Sonne verbrannt. Und neues wächst nicht mehr.
Sie überlegt, ob sie im Büro anrufen soll, dann schickt sie ihrem Kollegen nur eine SMS . Bin morgen wieder da. Alles in Ordnung. Lissabon Ende September super.
Er antwortet mit der originellsten und aufrichtigsten Nachricht des SMS -Zeitalters: OK . Kein Interesse. Keine Emotionen. Kein Smiley. Einfach nur OK . Aber immerhin eine Antwort. Hana hasst es, wenn ihre Grüße oder SMS unbeantwortet bleiben. Sie würde gerne KO antworten, mit einem Smiley dahinter, lässt es aber lieber sein. Der Kollege mag keine Spielchen. Er ist jung. Ganze drei Jahre jünger als Hana. Und er ist karrieregeil. Seine hübsche Freundin und er haben sich neulich eine kleine Wohnung am Stadtrand von Prag gekauft. Womöglich ist er auf Hanas Stelle scharf. Die kann er gerne haben, denkt Hana. Warum sollte nicht auch er reisen und das Leben genießen können. La petite mort. Wer weiß, ob seiner Freundin und ihm noch Zeit für so etwas bleibt. Manchmal verbringt er das ganze Wochenende im Büro.
Hana schaltet ihr Handy aus und verstaut es in der Tasche.
Vor dem Kiosk stehen nur ein paar Leute. Eine kleine Gruppe Studenten. Drei Skater. Ein verliebtes Paar, das sich aus einem Büro hierher geflüchtet hat, um übers Privatleben zu reden. Er streichelt unauffällig ihren Oberschenkel unter dem Tisch, während sie scheinbar ihre ganze Aufmerksamkeit der unter ihnen liegenden Stadt widmet.
Hana kauft einen Hotdog, Wein und ein Mineralwasser. Sie lässt sich auf einer Bank nieder und legt die Füße auf die steinerne Brüstung. Lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Wein und kaut an dem gummiartigen Brötchen, in dem ein Würstchen steckt. Ein richtiger Hotdog ist das nicht, frisch schon gar nicht, aber okay. Die ganze Stadt ist doch von gestern, deswegen kommen auch so viele Touristen mit ihren Digitalkameras hierher, deswegen macht es Hana auch nichts aus, ihr den Rücken zuzukehren.
Sie schlägt die Seite auf, die sie zuletzt im Flugzeug gelesen hat. Letztlich bleibt vom Heute, was vom Gestern blieb und vom Morgen bleiben wird: das unstillbare, grenzenlose Verlangen, allzeit derselbe und zugleich ein anderer zu sein.
Genauso fühlt sie sich auch. Im Zwiespalt gefangen. Als wäre sie ruhig und unruhig auf einmal. Stark und schwach. Zufrieden und unglücklich. Aber immer noch wild entschlossen, aus dieser Situation herauszukommen, sich zu befreien, den
Weitere Kostenlose Bücher