Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sie würde Clemmie gern abholen, wenn sie nach Cornwall fuhren. »Wenn es Ihnen recht ist, kann Clemmie mit uns kommen, und Sie hätten ein wenig Zeit für sich«, hatte Sarahs Mutter gesagt. Clemmie, die den Hörer im oberen Stock abgehoben hatte, um zu lauschen, hatte einen Freudenschrei ausgestoßen und sich eilig die Hand auf den Mund geschlagen, damit ihre Mutter es nicht hörte. Es war ihr größter Wunsch, mit Sarahs Familie nach Cornwall zu fahren. Sie liebte die Loves heiß und innig – sie waren so desorganisiert, so glücklich. Sie konnten den ganzen Tag mit der Entscheidung verplempern, was sie im Lebensmittelgeschäft kaufen sollten, eng umschlugen auf dem Sofa herumlungern, Witze reißen und Tee trinken. Keiner käme jemals auf die Idee, so etwas als Zeitverschwendung zu bezeichnen. Sarahs Dad werkelte ununterbrochen mit ihren Brüdern an irgendeinem Boot herum, und die beiden Jungs durften alles machen, was sie wollten. Einmal, als Johnny gerade einmal sieben gewesen war, waren sie sogar ganz allein mit einem Boot von Newquai nach Padstow gesegelt. Und Sarahs Mutter war die coolste Mum der ganzen Schule. Sie trug oft schwarze Kleidung mit klimperndem Schmuck dazu und kochte Gerichte mit viel Knoblauch. Sie sagte ständig Dinge wie: »Je mehr umso lustiger«, »Bleib doch über Nacht!« und »Ein Mäulchen mehr bekommen wir auch noch gestopft«. Clemmies Mum hingegen trug bunte Kleider mit Blumenmuster, rechnete alles durch und gelangte stets zu dem Schluss, dass das Geld hinten und vorne nicht reichte.
Clemmie fuhr ganz allein mit dem Zug nach Bridgwater. Während der ganzen Fahrt schlenderte sie durch die Abteile, in der Hoffnung, dass die anderen Kinder mitbekamen, wie unabhängig sie war. Sie kam sich sehr erwachsen vor. Außerdem hatte sie zum ersten Mal eine eigene Handtasche dabei, ein Geschenk ihrer Oma mit einer Pfundnote darin. »Für Notfälle«, hatte sie gesagt. Es fühlte sich toll an, sich im Speisewagen in der Schlange anzustellen. Allein in der ersten Stunde der Fahrt war sie viermal dort gewesen und hatte das ganze Pfund für Chips ausgegeben. Danach versuchte sie, sich möglichst viele Gratis-Besteckpäckchen und Salz- und Pfeffertütchen als Souvenirs unter den Nagel zu reißen. Sie war zum Schluss gelangt, dass eine Zugfahrt eine ganz wunderbare Art des Reisens war. Eines Tages würde sie die ganze Welt per Zug und Flugzeug bereisen. Diese Tütchen mit den Feuchttüchern, die man im Flugzeug bekam, hatten es ihr ganz besonders angetan.
Sie entdeckte ihn als Erstes. Er stand auf dem Bahnsteig in Bridgwater und ließ suchend den Blick über die Waggons schweifen, als der Zug einfuhr. Bei seinem Anblick machte ihr Herz einen Satz. Wie besorgt er nach ihr Ausschau hielt! Als der Zug langsamer wurde, sah sie Liz und Peter an seiner Seite und spürte einen leisen Stich. Sie hatte gehofft, bei ihrer ersten Begegnung nach all der Zeit allein mit ihrem Vater zu sein.
Sie stieg aus und sah die Erleichterung auf seinen Zügen, als er sie bemerkte. Er breitete die Arme aus. Augenblicklich vergaß sie Liz und Peter und rannte los, den Bahnsteig entlang und geradewegs in seine Arme. Er hob sie hoch und drückte sie an sich. Clemmie war so glücklich, dass sie Angst hatte, gleich zu platzen. Dann stellte er sie wieder auf den Boden und sagte Dinge wie: »Du bist ja so groß geworden, richtig erwachsen«, was sich zwar irgendwie nett anfühlte, sie zugleich allerdings beide daran erinnerte, wie lange sie einander nicht gesehen hatten. Liz stand mit Peter auf dem Arm hinter ihnen. Sie bückte sich, um Clemmie einen Kuss zu geben, und versuchte, Peter dazu zu bewegen, sie zu begrüßen, was völlig unnötig war und sich noch dazu als unmöglich erwies.
Sie hatte gehofft, ihr Vater würde sie auf dem Weg zum Wagen an der Hand nehmen, doch stattdessen hielt er Peters in der einen und ihre Reisetasche in der anderen. Also trottete sie hinter den Todd-Baileys her. Ihr Vater sah anders aus als früher; nichts erinnerte mehr an Starsky. Stattdessen trug er typische Landkleidung – eine dieser stocksteifen Jacken, die von allein stehen konnten, und schlammverkrustete Gummistiefel. Liz sprach ihn ständig mit James an, und er machte keinerlei Anstalten, sie zu korrigieren, als lege er keinen Wert darauf, länger Jim zu sein.
Ihr war auf Anhieb klar, weshalb er Liz so gernhatte – sie trug knöchelhohe Boots, hatte glattes Haar und bastelte mit Vergnügen. Sie hatte das Haus für die Taufe mit
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