Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
eine leere Hülle zurückblieb. Er war noch nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt erkannte. Manchmal saß er einfach nur da und schwieg, genauso wie damals bei seiner Mutter im letzten Stadium ihrer Erkrankung. Am liebsten war er in ihr Zimmer gegangen, wenn niemand dort war, und hatte sich auf das breite Bett gelegt; jenes Bett, in dem er geboren worden war und in dem sie sterben würde. Er hatte dem Ticken der Uhr gelauscht und zugesehen, wie das Obst in der Schale auf ihrem Nachttisch langsam seine Frische verloren hatte, ein täglich fortschreitender Prozess des Zerfalls, begleitet von einem unterschwelligen Geruch nach Verwesung. Irgendwann war ihm der Gedanke in den Sinn gekommen, dass beides, seine Mutter und die verfaulenden Früchte, untrennbar miteinander verbunden waren. Inzwischen fragte er sich, wieso eigentlich niemand die Früchte weggeworfen hatte. Sie hätte es getan, so viel stand fest – all diese unsichtbaren Kleinigkeiten, die nach ihrem Tod unerledigt blieben. In diesem Bett war sie gestorben. Zwei geschlagene Tage hatte die Katze schnurrend neben ihr gesessen, als wollte sie ihren kalten, toten Körper wärmen, während ihr Vater sich geweigert hatte, die Bestatter zu ihr ins Zimmer zu lassen. Seine Mutter musste etwa in Annies Alter gewesen sein. Doch es gab einen Unterschied zwischen ihnen: Annie wollte sterben. Und ihre Augen waren nicht geschlossen, sondern offen, starr auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet. Irgendwann einmal sah er zu seiner Überraschung eine Träne aus ihrem Augenwinkel sickern. Er wischte sie ab. »Alles wird gut, Annie«, sagte er zu ihr, obwohl er keine Ahnung hatte, ob es stimmte. Es war eben etwas, was man sagte, weil die Vorstellung, dass es nicht so sein könnte, zu unerträglich war. In anderen Momenten nahm er ihre Hand und drückte sie, doch sie zeigte kein einziges Mal eine Reaktion darauf. Die Medikamente, die Frank ihr gegeben hatte, waren viel zu stark.
Smudge war augenscheinlich daran gewöhnt, Annie in diesem Zustand zu sehen. Sie legte sich neben ihre schlaffe Mutter, schlang die Arme um sie und sang ihr Lieder vor oder spielte Karten auf ihrem Bauch, bis ihr langweilig oder ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen wurde. Dann kehrte sie an Deck zurück, um zu spielen oder Johnnys Hand ganz fest umklammert zu halten; es war, als spüre sie instinktiv, dass er fortwollte, dass ein Teil von ihm längst nicht mehr bei ihnen war. Einmal drückte sie ihre Lippen auf seine Hand und flüsterte: »Ich hab dich lieb, Johnny.«
Sein Herz zog sich bei diesen Worten zusammen, doch er wandte schuldbewusst den Blick ab, weil er wusste, dass er sie zurücklassen würde, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Er versuchte, die nagenden Zweifel zu ignorieren. Smudge ist ein glückliches Kind , sagte er sich wieder und wieder. Sie kennt nichts außer dem Leben auf diesem Boot. Smudge ist ein glückliches Kind.
Am nächsten Tag entdeckte Johnny das Dorf. Es war Nachmittag. Sie standen an Deck und blickten auf den Thunfisch, den Frank gefangen und aus dem Wasser gewuchtet hatte. Er war noch nicht ausgewachsen, hatte einen gewölbten, silbrigen Bauch und eine herrlich schimmernde Haut. Frank drosch mit einem Holzblock auf den Schädel des zuckenden Tiers ein. Und sie sahen zu, wie es dalag, starr vor Entsetzen im Angesicht des Todes und inmitten einer wässrigen Blutlache, die sich über das Spiegelheck ausbreitete und ins Meer floss. Ganz ruhig und methodisch tötete er den Fisch, ehe er sich daran machte, ihn mit seinen Bärenpranken fachmännisch auszunehmen.
Johnny hob den Kopf und entdeckte eine Rauchsäule, die in den Bergen aufstieg. Einen Moment lang traute er seinen Augen nicht. Ein Teil von ihm hatte sich längst damit abgefunden, dass es keine Zivilisation mehr gab. Wie in Zeitlupe richtete er sich auf, griff nach dem Fernglas und hob es an die Augen.
»Jaaaaa!«, brüllte er, und alle fuhren entgeistert zu ihm herum. »Da drüben ist ein Dorf!«
Er machte einen Freudensprung, lief aufgeregt auf dem Deck hin und her, lachend und johlend. Smudge, immer auf der Suche nach einem Grund, sich zu freuen, stimmte in sein Geheul ein und begann ebenfalls, auf der Stelle zu hüpfen, während Frank das Deck überquerte und neben Johnny trat, die Hände um das Vorstag gelegt. Johnny rannte ins Cockpit, riss Clem das Steuer aus der Hand, schob die Pinne zur Seite und wendete. Er schlang die Arme um sie und wirbelte sie im Kreis.
»Leben!«, rief er
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