Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ununterbrochen. »Menschliches Leben! Wir können weg, wir können weg!« Die Last, die so lange auf seinen Schultern gelegen hatte, war mit einem Mal verschwunden. Er fühlte sich wie ein freier Mann. Die Rettung, endlich war sie gekommen!
Clem lachte über seine Ausgelassenheit. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Menschliches Leben!«, echote Smudge, kam ins Cockpit gelaufen, schlang die Arme um ihn und Clem und tanzte mit ihnen vor Freude im Kreis. »Wohin gehen wir, Johnny?«
Er hielt inne und sah sie an, während sein Lächeln für einen kurzen Moment bröckelte. »Clem und ich müssen weiterziehen, Smudge.«
»Aber wieso?«, fragte sie verständnislos.
»Weil es eben so ist«, antwortete er. »Wir müssen unsere Hochzeitsreise fortsetzen.«
Er sah Clem in die Augen. Im Zuge der Ereignisse hatten sie beide vergessen, dass sie in den Flitterwochen waren. Er griff wieder nach dem Fernglas und dachte an das Leben, das vor ihnen lag, ehe er nach unten lief, um auf der Karte nachzusehen, ob das Dorf eingezeichnet war. Eine Leichtigkeit ergriff von ihm Besitz, und er spürte, wie seine Zuversicht mit jeder Sekunde wuchs. Hätte es nicht Unglück gebracht, hätte er gepfiffen. Stattdessen begann er aus voller Kehle zu singen. »The day breaks … your mind aches … you find all her words of kindness linger on when she no longer needs you.«
Aus reiner Gewohnheit setzte er den Wasserkessel auf. Dies wäre ihre letzte Tasse Tee an Bord. Ja, er würde gesüßten Tee für alle zubereiten. Er würde verzeihen und Großmut an den Tag legen, nun, da die Freiheit zum Greifen nahe war. Er sah sich in der Kajüte um. Zwei Minuten, dann hätten sie ihre Sachen gepackt. Es war vorbei! Sie waren frei! Das Ende war nah. Noch nie hatte er eine solche Erleichterung verspürt. Fröhlich summend fuhr er mit dem Finger die gezackte Küstenlinie auf der Karte nach. Dann hörte er es plötzlich, ganz leise. Es kam aus dem Vorschiff. Er hielt inne, so wie damals, an jenem Abend auf dem Felsen, wie magisch angezogen von den seelenvollen Klängen. Sie sang dasselbe Lied wie damals. Die anderen konnten es nicht hören. Sie waren oben an Deck, und Smudge beklagte sich lautstark über irgendetwas.
Langsam schob er die Karte beiseite und wandte sich um, damit er sie besser hören konnte. Leise durchquerte er die Kajüte und blieb neben der Tür stehen. Trotz all ihres Kummers klang ihre Stimme wie die eines Engels. Sie sang ganz langsam, fast zögerlich, so als wolle sie die Melodie in ihre Einzelteile zerlegen, und obwohl sie jede Note perfekt traf, war der Song kaum mehr zu erkennen. »And in her eyes you see nothing … no sign of love behind the tears … cried for no one … a love that should have lasted years …«
Er presste das Ohr an die Tür. Er musste mehr hören. In der Kombüse begann der Wasserkessel zu pfeifen, doch es schien sie nicht zu stören. »You want her … you need her … and yet you don’t believe her when she says her love is dead … you think she needs you … And in her eyes you see nothing … no sign of love behind the tears.«
Er würde ihr süßen Tee bringen. Er kehrte in die Kombüse zurück, goss das kochende Wasser in die Aluminiumkanne und gab die Teebeutel und den Zucker dazu. Mit der Tasse in der Hand kehrte er zur Tür zurück, drehte vorsichtig den Knauf und trat ein. Sie hatte sich umgedreht und lag nun mit dem Kopf am Fußende, den Blick noch immer auf die Luke gerichtet, genauso wie beim letzten Mal. Er schloss die Tür hinter sich.
»Annie«, sagte er und glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde innehalten zu sehen. »Ich habe dir Tee gemacht. Wir haben ein Dorf entdeckt.«
Nun unterbrach sie ihren Gesang. Wie in Zeitlupe wandte sie blinzelnd den Kopf und sah ihn an, als hätte sie nicht die leiseste Ahnung, wer er war. Ihre Haut war kreidebleich und wächsern, ihre Augen waren fast durchsichtige Seen. »And yet you don’t believe her … when she says her love is dead …«
»Hier«, sagte er und hielt ihr die Tasse hin, doch sie machte keine Anstalten, sie entgegenzunehmen. »Komm, ich helfe dir.« Er griff behutsam unter ihre Arme und brachte sie in eine sitzende Position, ehe er sich aufs Bett setzte und ihr den Tee einflößte. Willenlos ließ sie es geschehen.
»Clem und ich werden von Bord gehen, Annie. Du musst wieder auf die Beine kommen. Für Smudge. Unbedingt.« Er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, ein schwacher Versuch, den Anschein der
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