Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
darüber hinwegzusetzen. Einige von ihnen waren schlichtweg absurd, beispielsweise, sich am Morgen der Trauung nicht zu sehen, obwohl sie und Johnny doch unzertrennlich waren. Doch der Tradition, bei der Hochzeit etwas Blaues und etwas Geliehenes zu tragen, blieb sie treu: Ihr Kleid war – gewissermaßen – geliehen. Sie hatte vor, es gleich nach der Trauung in die Kleiderkammer zurückzubringen. Sarah hatte es im Laden einer Wohltätigkeitsorganisation in Newquay in der Nachtwäsche-Abteilung aufgestöbert. Obwohl es mit blauen Blümchen bedruckt war, sah es wie ein Hochzeitskleid aus, war schmal geschnitten und aus einem glänzend weißen Stoff mit züchtigen langen Ärmeln. Für Johnny hatte sie einen Dreiteiler gefunden, sodass sie das perfekte Paar abgaben. Keiner von ihnen hatte Erfahrung mit der Organisation von Hochzeiten, und Clems Mutter hatte längst jeden Versuch aufgegeben, Struktur ins Leben der Loves zu bringen. Sie hatte alle möglichen entfernten Verwandten einladen, die Kirche mit Blumen schmücken, ein Buffet und Namenskärtchen auf den Tischen und eine Limousine haben wollen, bis Clem ihr erklärt hatte, dass das bei den Loves nicht so lief. Am Ende hatte sie sich mit Efeuzweigen von der alten Stadtmauer und Bier aus dem Fass abfinden müssen, auch wenn dies so gar nicht ihren Vorstellungen entsprochen hatte; sie war entsetzt gewesen, als sie mitbekam, wie Sarah die Triumph mit weißer Farbe angestrichen hatte.
Es war November, und es herrschte Aprilwetter – irgendwann hatte sich sogar ein Regenbogen über den Bergen gespannt. Clem hatte ihn als Zeichen gewertet, auch wenn sie sich nicht sicher gewesen war, wofür. Sie hatte – das Hochzeitskleid unter die Beine gestopft, die Locken unter dem Sturzhelm verborgen – die Arme fest um Rob geschlungen und sich gegen seinen Rücken geschmiegt, während er über die gewundenen Landstraßen gebrettert war. Er war ein Stück kleiner und breitschultriger als Johnny, besaß jedoch dieselbe behagliche Vertrautheit wie sein Bruder. Sie rochen sogar ähnlich. Ihr Herz drohte vor Glück förmlich überzuquellen. Nicht einmal im Traum hätte sie gedacht, dass ein Mensch so überschäumende Freude empfinden konnte. Die ganze Welt schien im goldenen Schein ihres Glücks zu erstrahlen. Nie hatte das Wasser so blau, die Gischt so weiß geleuchtet, waren die Berge so klar und der Rasen so grün gewesen. Es schien, als hätte sich alles rings um sie für ihren Hochzeitstag in Schale geworfen, als zeige sich die Natur von ihrer schönsten Seite, nur für sie – auch jetzt noch konnte sie diesen kindischen Verdacht nie ganz abschütteln, dass die Welt eigens für sie zurechtgezimmert worden war.
Leider hielt das Wetter nicht. Als sie den Hügel zur Kirche hinauffuhren, verdunkelte sich der Himmel auf einmal dramatisch und öffnete sämtliche Schleusen. Es goss in Strömen. Sie spürte den Regen im Nacken, zwischen dem Rand des Helms und dem Kragen ihrer Jacke, hörte das Platschen, mit dem die Tropfen auf Robs Lederjacke einprasselten, und sah, dass die weiße Farbe zerfloss und lange Schlieren auf der Straße, ihren Beinen und auf Robs Anzug hinterließ.
Doch der eigentliche Ärger begann vor der Kirche, als sie feststellten, dass eine andere Hochzeit im Gange war – mit einer Hundertschaft an Freunden und Verwandten.
Sie und Rob stiegen vom Motorrad und rannten durch den Regen zu dem Rundbogen, unter dem Johnny und die anderen Gäste Zuflucht gesucht hatten. Zu ihrer Bestürzung drangen lauter Gesang, Hüsteln und sonstige Geräusche aus der Kirche. Sie warteten, bis die Zeremonie beendet war und sich der Großteil der Gäste auf der anderen Seite der Kirche eingefunden hatte, um Fotos zu machen – noch ein Detail, an das sie nicht gedacht hatten –, ehe sie zum Pfarrer gingen, der völlig verblüfft zu sein schien, eine zweite Braut in seiner Kirche vorzufinden. Er meinte, er könne sie unmöglich trauen, da sie die Reservierung nicht bestätigt hätten und folglich das Aufgebot nicht hatte ausgehängt werden können – sie wussten noch nicht einmal, was ein Aufgebot überhaupt war. Clem schlug vor, es doch einfach jetzt nachzuholen. Sie bettelten und flehten, doch der Pfarrer ließ sich nicht erweichen: ohne Aufgebot keine Trauung.
Und dies war nicht das einzige Problem. Clems Vater war nicht aufgetaucht, außerdem hatte Rob Clems Ring zu Hause auf dem Küchentisch liegen lassen. Und so landeten sie im Falcon Inn auf der gegenüberliegenden
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