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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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geblieben«, fuhr der Mann fort. »Ihr hattet Glück, dass ihr uns heute überhaupt noch erwischt habt. Ohne den Sturm wären wir längst weg.«
    »Wohin soll es denn gehen?«, erkundigte sich Johnny.
    »Wir wollten die gesamte türkische Bucht abfahren und dann geht es weiter. Zumindest ist das der Plan.«
    Johnny und Clem tauschten einen raschen Blick. Sie hatten beide denselben Gedanken – die perfekte Gelegenheit, von hier wegzukommen. Johnny zog seinen Tabak aus der Tasche und nahm die Blättchen heraus. Sie waren nass geworden und klebten an der Gummierung in einer endlosen Wurst aneinander. Der Bärenmann schob Johnny sein Päckchen zu.
    »Hier, nimm eine von denen. Ich vermute, ihr braucht etwas, wo ihr heute Nacht schlafen könnt. Das Ding hier lässt sich zu einem Doppelbett ausklappen«, sagte er mit einer Geste auf die Sitzbank, auf der Annie und er saßen.
    »Was ist mit eurer Tochter?«, fragte Johnny.
    »Kein Problem. Sie schläft gern bei uns.«
    »Danke«, sagte Johnny. »Vielen, vielen Dank.« Er tippte eine von Franks Zigaretten aus dem Päckchen und spürte, wie Clem ihn unter dem Tisch mit dem Finger anstieß.
    »Entschuldigung, wenn ich so dreist bin«, fuhr er fort, »aber gibt es zufällig die Möglichkeit, dass ihr uns irgendwo unterwegs absetzt? Im nächsten Dorf oder der nächstgrößeren Stadt?«
    »Wir haben auch Geld«, fügte Clem hinzu.
    Der Bärenmann und die Frau sahen einander an. »Klar«, sagte er dann. »Ich sehe keinen Grund, weshalb das nicht gehen sollte.«
    »Oh, vielen Dank!«, rief Clem. »Tausend Dank! Ich könnte dich küssen«, stieß sie hervor.
    Der Bärenmann und seine Frau lachten.
    »Tu dir keinen Zwang an!«, erwiderte er, hob eine Braue und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, während er sein Glas ein weiteres Mal hob.
    Es brauchte nicht viel, um Clem betrunken zu machen. Johnny sah zu, wie sie ihren neuen Gastgebern über den Tisch hinweg Küsse zublies. Ihre Wangen waren gerötet vom Raki, und ihre dunklen Augen strahlten. Sie sah absolut hinreißend aus. Und auch dem Bärenmann entging diese Tatsache nicht. Johnny wurde Zeuge des Augenblicks, als der Bärenmann in voller Gänze erkannte, wie wunderschön Clem war. Er beugte sich vor, um nach seinem Feuerzeug zu greifen, und hob den Blick. Für einen kurzen Moment war er völlig verzaubert: Das Lächeln gefror auf seinen Zügen, ehe es langsam verflog. Manchmal, wenn Johnny beobachtete, wie den Leuten bei Clems Anblick der Atem stockte, erschien ihm ihre Schönheit wie eine Waffe. Frank sah aus, als würde Clem eine Pistole auf seine Brust richten. Für den Bruchteil einer Sekunde trat ein Ausdruck blanker Hilflosigkeit in seine Augen.
    »Bitte entschuldigt, wenn ich das sage, aber ihr beide seht aus, als wärt ihr noch Kinder«, bemerkte er, wandte den Blick ab und widmete sich wieder seiner Gitarre.
    »Tja, sind wir aber nicht. Wir sind sogar verheiratet«, erklärte Clem stolz und leerte ihr Glas. Wie immer entging ihr die Wirkung, die sie auf andere Leute hatte. »Ich bin fast achtzehn.«
    »Der Ring ist mir schon aufgefallen«, sagte Frank.
    Sie blickte auf den schmalen Goldring mit dem winzigen Saphir an ihrem Finger. Johnny hatte beim Pokern mächtig abgesahnt, und von dem Geld hatten sie den Ring für sechsunddreißig Mäuse vor ihrer Abreise im Kensington Market gekauft.
    »Eigentlich sind wir gerade auf Hochzeitsreise«, erklärte sie. Ein Anflug von Melancholie erfasste sie, als ihr die Ereignisse dieses Abends wieder einfielen. Sie nahm Johnnys Hand, die nicht länger feucht und klamm, sondern warm war wie ihre eigene, strich mit den Fingern über seinen Handrücken und drückte sie, um die Erinnerung zu vertreiben.
    »Wir wollten weiter nach Osten. Immer weiter, so lange es irgendwie geht. Könnte sein, dass das die längsten Flitterwochen der Menschheit werden«, erzählte sie weiter.
    »Bevor ihr nach Hause zurückkehrt und euch irgendwo niederlasst?«, hakte Frank nach.
    »O nein, wir werden wohl nie sesshaft werden«, wiegelte sie lachend ab und knibbelte an einem der Pflaster an ihrem Knöcheln herum.
    »Wollt ihr denn keine Kinder?«
    »Natürlich wollen wir Kinder. Einen ganzen Stall voll. Ich weiß sogar schon, wie sie heißen sollen.«
    »Keinen Stall voll«, widersprach Johnny und schnippte seine Asche in den vor Kippen überquellenden Aschenbecher. Er wollte noch warten und zuerst ein Boot für sie kaufen, auf dem sie leben konnten. Für ein anständiges Boot brauchte man Zeit, um es

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