Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Annie an. Sie erwiderte seinen Blick gerade lange genug, um ihn die Angst in ihren Augen erkennen zu lassen. Ihre Finger, die an den Knöpfen ihrer Bluse herumgefummelt hatten, zitterten. Johnny öffnete den Mund, doch er brachte keinen Laut hervor. Seine Lippen waren nicht imstande, die Worte zu formen; seine Zunge lag zentnerschwer in seiner Mundhöhle, während sein Körper plötzlich schwerelos zu werden schien. Er hatte das Gefühl, in der Luft zu schweben, über dem Tisch, hinaus aus der Kajüte, weg von hier, von alldem. Annie starrte ihn blinzelnd an, als wäre sie Zeuge davon, wie er davonschwebte. Ein klaustrophobisches Gefühl erfasste ihn, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Die Schiffswände schienen immer näher zu kommen, während er mit einem Mal das Gefühl hatte, aus großer Höhe in die Tiefe zu stürzen. Taumelnd kam er auf die Füße und fegte dabei die Spielkarten vom Tisch. Er sah, wie die Karo zwei zu Boden trudelte.
Er murmelte etwas von »frischer Luft« und stürzte die Treppe in die nächtliche Finsternis hinauf. Er schlug die Kajütentür hinter sich zu und sog verzweifelt die kühle Nachtluft in seine Lungen, während er den Blick über seine Umgebung schweifen ließ – dreihundertsechzig Grad blankes Nichts. Sie waren im Niemandsland, einer endlosen Einöde.
Er taumelte aus der Kabine und quer über das Deck und klammerte sich am Vorstag fest. Er fühlte sich, als wäre er Opfer eines brutalen Überfalls geworden, als hätte ihm jemand die Seele aus dem Leib geprügelt. Nach einer Weile gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Sie lagen rund zweihundert Meter vom Ufer entfernt im Herzen einer kleinen Bucht vor Anker. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dort zu sein, weg von diesem Boot. Unvermittelt kam ihm die Galle hoch, und er übergab sich heftig ins Meer. Prustend und spuckend sank er auf die Knie, während ihm der Speichel aus dem Mund troff. Dann schleppte er sich mühsam auf allen vieren zum Mast zurück, barg das Gesicht in den Händen und versuchte verzweifelt, sich einzureden, dass er sich irrte. Frank war ein anständiger Mann, ein außergewöhnlicher Mann. Ein Mann voll ehrenwerter Wünsche und Vorstellungen; ein Mann, der seine Ziele höher gesteckt hatte als die meisten anderen; ein Mann mit beeindruckendem Tiefgang; ein Mann, der vieles durchblickte und verstand; ein Mann, der nach der Wahrheit suchte, ein Philosoph und ein Menschenfreund. Er hatte Johnny in einer Art und Weise berührt wie noch nie jemand zuvor. Er hatte sein Herz berührt und ihm beigebracht, die Welt aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten, und die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren, statt dagegen anzukämpfen. Johnnys Dankbarkeit war grenzenlos gewesen, er hätte alles für diesen Mann getan. Er hatte alles für ihn getan – er hatte ihm geschenkt, was ihm am meisten am Herzen lag: Clemency Bailey. Für Johnny war er wie ein Vater gewesen. Wie ein Lehrer. Er hatte sogar daran gedacht, selbst mit ihm zu schlafen. Ja, er hatte darüber nachgedacht. O Gott. O Gott. O Gott. Es gab keinen Zweifel – Johnny hatte mitbekommen, wie er sie betrachtet hatte, hatte diese riesigen Finger auf ihrem Körper gesehen. Frank war ein Betrüger, ein Heuchler, ein Kinderschänder, ein Ungeheuer. Einsperren und den Schlüssel wegwerfen.
Er presste den Kopf gegen den Mast, bis sein Nacken zu schmerzen begann. Er musste den Schmerz spüren, um die abscheulichen Bilder aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Nach einer Weile öffneten sich die Kajütentüren, und Clem trat heraus. Sogar sie beide selbst waren besudelt, ebenso wie alles andere. Ihre Liebe, er und sie, alles war vergiftet. Sie kam langsam über das Deck auf ihn zu und schlang ihre Strickjacke enger um sich. Besorgnis zeichnete sich auf ihrer Miene ab.
»Was ist denn mit dir?«, fragte sie, ging neben ihm in die Hocke und strich ihm das Haar aus dem Gesicht, während sie sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel aufstützte.
Er brachte keinen Ton heraus.
»Ich dachte, du wolltest … Ich dachte, es sei okay.«
»Wir müssen hier weg«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. Er hatte noch immer den Geschmack nach Erbrochenem im Mund. Sie schien seine Verzweiflung zu spüren. Er hatte nur einen Wunsch: in das Rettungsboot steigen und von hier verschwinden, egal wohin.
»Ich weiß.«
Aber sie wusste gar nichts. Sie konnte die Wahrheit nicht sehen. Sie war so unschuldig, und genau das sollte sie auch bleiben.
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