Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
außer ihm schien niemand es gehört zu haben, nicht einmal Frank, der am nächsten zur Tür saß.
Smudge schrie ein zweites Mal auf, diesmal lauter. Clem, die es offenbar gehört hatte, löste sich von Annie und schloss eilig ihre Bluse.
»Frank! Smudge ist wach.« Johnny stieß ihn an und sah zu Annie hinüber, die keine Anstalten machte, ihre Bluse zuzuknöpfen. Ihre Brüste hingen heraus, und ihr Blick war auf ihren Mann gerichtet. Frank lauschte mit schief gelegtem Kopf und zog langsam seinen Arm hinter Johnnys Rücken hervor. Inzwischen hatte Johnny endgültig keinen Zweifel mehr daran, dass er sie absichtlich dort hingelegt hatte.
Aber niemand stand auf, um nach Smudge zu sehen. Seufzend zog Frank den Korken aus der Weinflasche und füllte die Gläser, ehe er sich Johnny zuwandte. »Schade, gerade als es anfing, spannend zu werden.«
»Zum Glück haben wir sie gehört«, meinte Johnny und griff nach seinem Tabak. »Sonst wäre es wahrscheinlich ziemlich peinlich geworden.«
»Wegen Smudge brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Frank, dessen Gesichtsfarbe sich allmählich wieder normalisierte, und drehte das Zigarettenpäckchen zwischen den Fingern hin und her. »Sie ist daran gewöhnt.« Mit der anderen Hand machte er eine ausholende Geste, die den Tisch mit den Karten, den Alkohol, den Sex und alles andere einschloss.
»Was meinst du damit? Einen ausschweifenden Lebensstil im Allgemeinen?«, fragte Johnny und ließ sich in die Kissen sinken. Eigentlich würde er am liebsten weiterspielen, wollte aber nicht übereifrig wirken, weil die anderen sonst sofort wüssten, dass er die Karo zwei auf der Hand hatte. Wieder drang ein Laut aus dem Vorschiff; diesmal war es eher ein Stöhnen im Traum, als sei sie im Begriff, wieder in Tiefschlaf zu fallen. Noch regte sich niemand, um nach ihr zu sehen.
Frank tippte sich eine Zigarette aus dem Päckchen und fing sie mit den Lippen auf, dann zündete er sie an, legte das Feuerzeug auf den Tisch und ließ es über die Tischplatte schlittern. »Das Boot ist ziemlich klein«, bemerkte er und musterte Johnny.
»Allerdings«, bestätigte er. »Nicht viel Platz für ein Schäferstündchen.«
»Stimmt.« Frank zog kräftig an seiner Zigarette. »Außerdem kann sie es nicht leiden, wenn sie den ganzen Spaß verpasst.« Lächelnd schnippte er die nicht vorhandene Asche von seiner Zigarette in den Aschenbecher. »Wer mag das schon?«
Frank ließ den Zigarettenrauch in einer langen Wolke durch seinen Mundwinkel entweichen, Annie und Clem griffen nach ihren Karten.
Wie in Zeitlupe hob Frank den Arm und legte ihn um Johnnys Schultern. Seine Hand schloss sich um seinen Nacken, und er spürte die Wärme seiner Finger mit den abgetrennten Spitzen. Das Gesicht des älteren Mannes schwebte dicht vor seinem. Franks Pupillen waren geweitet, sodass der Übergang zur Iris nicht länger erkennbar war, zwei gähnend schwarze Löcher.
»Das Schicksal hat dich zu mir geführt, Johnny. Gleich und gleich gesellt sich gern. Es ist kein Zufall, dass du ausgerechnet jetzt, in dieser Phase, zu uns gekommen bist.«
Eine unbehagliche Stille breitete sich im Raum aus. Johnny schluckte. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an. »Welche Phase?«
Hinter Frank öffnete sich die Tür zum Vorschiff. Alle vier drehten sich um. Eine völlig verschlafene Smudge stand, splitternackt unter ihrer Captain-Hook-Jacke und mit Gilla in der Hand, im Türrahmen und rieb sich die Augen. Ihr Pony stand senkrecht in die Höhe. Frank löste seine Hand von Johnnys Nacken, beugte sich langsam vor und hob seine Tochter auf seinen Schoß. Sie schmiegte sich an ihn und murmelte etwas im Halbschlaf. Johnny starrte die beiden an.
Etwas an der Art, wie er sie festhielt, wie seine Finger ihren kleinen Schenkel berührten, wie Frank sie hochhob und an sich drückte, wie seine Pranke ihr Gesäß umschloss, wie er sie ins Vorschiff trug und an dem Ausdruck in seinen Augen, als er verschwand, beschwor ein mulmiges Gefühl in Johnny herauf. Mit einem Mal schien eisige Kälte in die Kabine zu dringen. Eine Woge der Übelkeit stieg in ihm auf. All die Siestas, die zahlreichen Schläfchen, ihre aufreizenden Tanzbewegungen, die Finger mit den fehlenden Spitzen, deren Berührung er vor wenigen Minuten noch herbeigesehnt hatte – die Übelkeit schlug in gallig-bitteren Ekel vor sich selbst um. Er blickte über den Tisch hinweg zu Clem. Sie hatte nichts davon bemerkt. Ahnungslos ordnete sie ihre Karten. Dann blickte er
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