Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sie ihn lieber nicht noch reizen. Sie lutschte einen Pear Drop nach dem anderen und sah zu, wie der Wind über die Bäume und Felder rauschte, statt Abfälle herumzuwirbeln wie in London. Nach einer knappen Stunde Fahrt fing das Auto plötzlich zu ruckeln an. Ihr Vater stieß wilde Flüche aus, als der Wagen nach wenigen Metern mitten auf der langen, engen Straße, auf der kaum zwei Autos aneinander vorbeipassten, zum Stehen kam. Er drosch so heftig auf das Lenkrad ein, dass die Krähen auf einem Baum neben ihnen aufstoben und seine Hand ganz rot wurde. Clemmie sagte vorsichtshalber kein Wort.
Er stieg aus und schlug die Wagentür mit voller Wucht zu, sodass das Duftbäumchen am Rückspiegel kreiselte. Sie sah zu, wie er seine Starsky-Sonnenbrille abnahm und sein Jackett auszog. Dann öffnete er die Wagentür noch einmal, um es sorgfältig zusammengefaltet auf seinen Sitz zu legen. Er sah nicht einmal in ihre Richtung. Anschließend trat er vor den Wagen und öffnete die Motorhaube. Verstohlen mopste sie eine Handvoll Pear Drops und starrte auf die glänzende Motorhaube, die vor der Windschutzscheibe aufragte. Nach einer Weile tauchte ihr Dad wieder auf, ging um den Wagen herum zum Kofferraum. Sie hörte ihn herumkramen, dann schlug er die Klappe zu und schwenkte einen roten Plastikkanister.
»Die Tankanzeige ist kaputt. Wir brauchen Benzin. Wir müssen zu der Tankstelle auf der Hauptstraße.«
Es war ein stürmischer, aber schöner Tag, und die verwaiste Straße entlangzugehen, fühlte sich an, als würden sie zu einem Abenteuer aufbrechen. Sie hatte Monkey, den Affen, in der einen, den Benzinkanister in der anderen Hand. Ihr Vater schimpfte und zeterte immer noch, hielt Ausschau nach vorbeifahrenden Autos und sah ständig auf die Uhr. Sie musste traben, um mit ihm Schritt halten zu können.
Nach einer Weile schien die Anspannung allmählich von ihm abzufallen, und er plauderte sogar mit ihr über dies und jenes. Er kannte sich mit allem aus. Gäbe es einen Wettbewerb um den klügsten Menschen Englands, würde er ihn ohne Weiteres gewinnen. Als sie an einem überfahrenen Hasen vorbeikamen, erklärte er ihr sämtliche herausquellenden Eingeweide, welches Organ welche Funktion besaß, wie das winzige Herz arbeitete, woran man erkennen konnte, ob der Hase Raucher oder Nichtraucher gewesen war, und allerlei andere wichtige Dinge. Dann erläuterte er ihr, wie die hohen Holzmasten die Telefongespräche überallhin übertrugen, wie der Asphalt auf die Straßen kam und dass Vögel manchmal sogar Menschenhaare für den Bau ihrer Nester benutzten. Sie unterhielten sich so angeregt, dass sie sogar versäumten, einen vorbeifahrenden Wagen anzuhalten. Ihr Vater rannte ihm ein Stück nach, doch es war zu spät. Er war wütend darüber, und als sie ihn einholte, schimpfte auch sie, obwohl es sie in Wahrheit gar nicht kümmerte. Sie waren ein tolles Team.
In einträchtigem Schweigen gingen sie weiter. »Ich kann es dir ebenso gut auch jetzt gleich sagen, Clemmie«, meinte er irgendwann. »Eigentlich wollte ich irgendwo haltmachen, wo es nett ist, und Tee trinken, aber …«
Er zog seine Zigarrendose heraus. Clemmie sah, dass nur noch zwei darin lagen. Ihr fiel auf, dass seine Hand zitterte, als er sie anzündete. Es gefiel ihr, wie der Rauch kräuselnd in seinen Nasenlöchern verschwand. Wie eine glitschige blaue Schlange. Sie ergriff wieder seine Hand, und sie gingen weiter. »Ich werde eine Zeit lang anderswo wohnen.«
Sie sah auf und folgte seinem Blick. Er starrte zum Himmel hinauf, wo ein Schwarm Vögel in V-Formation flog. Das Wort hatte sie von Miss Bradley in der Schule gelernt. »Wohin gehen wir?«
»Nur ich, Schatz.« Er sah sie kurz an.
»Und ich auch«, sagte sie, in der festen Überzeugung, dass er das in Wahrheit gemeint hatte.
»Nein. Du und deine Mum bleibt im Haus wohnen.«
»Oh. Weiß Mummy das schon?«, fragte sie. Wie seltsam, dachte sie.
Er nickte. »Ich ziehe nach Somerset.«
»Was ist Somerset?«
»Eine Gegend.«
»Und was ist so gut an Somerset?«
»Eine Freundin von mir wohnt dort.«
»Aber wieso kann ich nicht mitkommen?«
Er zog an seiner Zigarre. »Weil es nun mal nicht geht.«
Sie blieb stehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls stehen zu bleiben. »Ich will aber mit. Wie lange bleibst du dort?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Übers Wochenende?«
»Deine Mum und ich … na ja, wir sind nicht mehr zusammen.«
»Aber wenn du zu Hause bleiben würdest, wärt ihr doch
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