Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
alles wieder in Ordnung. Es wäre vorbei. Und es wäre nicht länger von Bedeutung, ob er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte oder nicht. Sie würden an einer Stadt oder einem Dorf vorbeikommen, irgendwann, vielleicht sogar heute noch, und dann könnten sie Abschied nehmen. Die Panik, die Fluchtgedanken hatten über Nacht ihre Dringlichkeit eingebüßt. Inzwischen war die Vorstellung, mitten in der Nacht mit dem Beiboot an Land zu rudern und anschließend durch die Dunkelheit zu stolpern, absolut lächerlich. Die lange Zeit auf See forderte ihren Tribut. Sein Gehirn spielte ihm Streiche, seine Phantasie ging mit ihm durch. Bitte, Gott . Er schloss die Augen und spürte die Wärme der Sonnenstrahlen, die seine Lider liebkosten.
    Dies war der erste Morgen seit einer halben Ewigkeit, an dem er ohne Clem an seiner Seite aufwachte, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Er fühlte sich einsam. In diesem Moment wurde die Kajütentür aufgerissen, und Smudge streckte den Kopf heraus. Sie strahlte von einem Ohr zum andern.
    »Hey«, sagte er und tat so, als hätte er ihren Geburtstag vergessen.
    »Du sollst ihn nicht wecken!«, rief Frank aus der Kajüte.
    »Schon gut«, rief Johnny zurück. »Ich bin sowieso wach.«
    Wie leicht es ihm fiel, mit Frank zu reden, als wäre nichts geschehen. Wie war es möglich, dass seine unumstößliche Gewissheit nun von Zweifeln durchsetzt, seine Wut verraucht, seine Bitterkeit verflogen war? Das ergab doch keinerlei Sinn. Gestern Abend hatte er Frank noch als Ungeheuer bezeichnet, und heute schienen seine Vorwürfe unbegründet und beinahe wenig absurd zu sein. Wenn er in Smudges strahlendes Gesicht blickte, konnte er kein Opfer erkennen. Keinen Missbrauch. Keine Angst. Es gab wohl kein fröhlicheres, unbeschwerteres Geschöpf auf der Welt.
    »Happy Birthday«, sagte er, woraufhin sie sich ungestüm auf ihn stürzte. Ihr wirres schwarzes Haar hob sich scharf vom leuchtend blauen Himmel ab. Ihre dunklen Augen waren so undurchdringlich wie die ihres Vaters.
    »Kaffee, Johnny?«, rief Frank aus der Kombüse.
    »Bitte.«
    »Mami sagt, ich darf mein Geschenk nicht verlangen.« Sie starrte ihn durchdringend an. »Also tue ich es auch nicht.«
    »Vielleicht musst du ja Clem fragen.«
    Er würde sich bei Clem entschuldigen, ihr sagen, dass sie recht hatte.
    »Wieso schläfst du hier oben?«, wollte Smudge wissen, drehte sich um und zwängte sich so zwischen seine Beine, dass sie beide Arme auf seinen Knien abstützen konnte.
    Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe nach Wind Ausschau gehalten«, antwortete er so fröhlich, wie er nur konnte – die Wasseroberfläche war noch genauso spiegelglatt wie die ganzen Tage zuvor. Sie hielt ebenfalls nach Wind Ausschau. Nach einer Weile drehte sie sich wieder um.
    »Sollen wir über fünf reden?«
    »Ja, bitte«, erwiderte er. »Erzähl mir alles darüber.« Er fragte sich, ob Clem schon aufgestanden war. Er wollte sie sehen, sich entschuldigen, dafür sorgen, dass alles wieder so war wie zuvor.
    »Also, fünf ist eins plus vier. Und zwei plus drei. Und fünf plus null …« Sie dachte angestrengt nach.
    Er betrachtete ihre weichen molligen Kinderfinger, als sie die Möglichkeiten abzählte, ihre konzentriert gerunzelte Stirn. Sie war hinreißend. Sie würde ihm fehlen.
    »Mehr fällt mir nicht ein«, meinte sie schließlich.
    »Sechs minus eins«, sagte er.
    »Ach ja. Und sieben minus zwei.«
    »Und zweieinhalb plus zwei plus ein halb.«
    Ihre Augen begannen zu leuchten. »Wer hätte gedacht, dass man mit fünf so viel machen kann. Wie alt bist du?« Sie reckte den Hals, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
    »Einundzwanzig.«
    »Wie viel mal fünf ist das?«
    »Viermal plus eins.«
    »Ich bin fünf«, verkündete sie, als erklärte das alles. Er nickte und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. Ein Glück, dass sie seine Augen und die Hässlichkeit, die sich dahinter verbarg, nicht sehen konnte. Was er gedacht hatte, war abscheulich, unverzeihlich. Es fühlte sich so viel besser an, sich nicht länger mit diesen Gedanken herumschlagen zu müssen.
    »Kaffee ist fertig.« Frank stand auf der Kombüsentreppe und stellte zwei Tassen auf das Kajütendach. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette, und sein dunkles lockiges Haar stand ihm auf der einen Seite wirr vom Kopf ab. Es war ein Morgen wie jeder andere. Genauso wie jeder andere , dachte Johnny, während ihm das bittersüße Kaffeearoma in die Nase stieg.
    »Heute wird der schönste Tag

Weitere Kostenlose Bücher