Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
meines Lebens. Wir spielen Reise nach Jerusalem«, verkündete Smudge und zerrte Johnny hinter sich her über das Deck. »Wir machen ein Picknick am Strand, und Mami backt mir einen Kuchen.« Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Und ein gebratenes Huhn gibt’s auch. Und wir können Verstecken spielen.«
Clem stand mit Smudges Geschenken in der Hand im Cockpit. Sie hatte die Halskette in einer ihrer Schachteln verpackt und den Monsterspeer in Handtücher gewickelt. Sie beäugte Johnny vorsichtig, um herauszufinden, wie seine Stimmung war. Er beugte sich vor und küsste sie. Lächelnd strich sie ihm über die Hand. Sie hatte ihm verziehen.
»Das hier ist von mir«, sagte sie zu Smudge und drückte ihr die Schachtel in die Hand.
Smudge war außer sich vor Freude, hielt das Päckchen fest an ihre Brust gedrückt und hüpfte ausgelassen im Kreis herum. Ihr kleiner Kinderkörper war gespannt wie eine Feder. Johnny konnte sich nicht erinnern, jemals wegen eines Geburtstags so aufgeregt gewesen zu sein. In seiner Familie war dieser Tag nie besonders gewürdigt worden.
Annie kam aus der Kombüse, als Clem Smudge die Kette anzulegen versuchte. Johnny fiel auf, dass sie ihn nicht ansah, als sie ihm einen Guten Morgen wünschte. Sie lächelte, vermied jedoch den Blickkontakt, wenn sie mit ihm sprach, und lief geschäftig die Kombüsentreppe hinauf und hinunter. Selbst als Smudge den Monsterspeer auspackte, bewunderte sie ihn zwar und sagte die richtigen Dinge, nahm Johnny jedoch kein einziges Mal zur Kenntnis.
So ging es den ganzen Vormittag. Annie würdigte ihn keines Blickes, auch nicht, als sie zu albernen Abba-Songs Reise nach Jerusalem spielten. Nicht dass die anderen es mitbekommen hätten, dafür ging sie viel zu subtil vor. Einmal, als die Musik endete und sie zu ihren Stühlen liefen, begegneten sich ihre Blicke für Sekundenbruchteile, doch dann sah sie eilig weg. Sie beschäftigte sich in der Küche, nahm das Hühnchen aus dem Kühlschrank, wickelte Kartoffeln in Alufolie und richtete die Zutaten für den Kuchen her. Ihr Verhalten zeigte Wirkung. Er kam sich wie ein Kind vor, das von der Mutter Schelte bekommen hatte. Sehnsüchtig blickte er aufs Meer hinaus. Wenn doch nur endlich Wind aufkäme. Er hatte genug von alldem hier. Er und Clem mussten endlich weg, die Welt entdecken, nur sie beide, wieder diejenigen sein, die sie einmal gewesen waren. Aber dazu würde es heute ganz bestimmt nicht kommen, dachte er beim Anblick der Taschen voller Lebensmittel und Geschirr, mit denen Frank bereits das Beiboot belud. Es war aussichtslos: Sie würden eine Party am Strand feiern.
Annie bat Frank, in zwanzig Minuten noch einmal zurückzukommen und sie abzuholen, da der Kuchen noch nicht fertig sei und das Beiboot außerdem sowieso nicht genug Platz für alle biete. In der Zwischenzeit kletterte Frank ins Boot und schob die Ruder in die Vorrichtungen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wolle er einfach losrudern und sie allein an Bord zurückzulassen. Wie einfach es doch wäre, den Anker zu lichten, den Motor zu starten und ihn mit einem Beiboot voller Vorräte einfach in dieser gottverlassenen Bucht zurückzulassen.
»Johnny, du ruderst«, sagte Frank. »Gib mir bitte das Geburtstagskind herüber.« Er stand auf und streckte einen Arm nach ihr aus.
Johnny hob Smudge hoch – sie hatte Granny in der einen Hand, den Speer in der anderen und einen Lutscher im Mund – und sah zu, wie Franks kräftiger Arm den winzigen Kinderkörper umschlang und sie sich auf den Schoß setzte. Johnny wandte den Blick ab. Nun, da der Keim in seinem Kopf erst einmal gepflanzt war, schien er ihn ununterbrochen nähren, das Szenario wieder und wieder zwanghaft durchspielen zu müssen. Er sah zu Clem hinüber, die mit Annie plauderte und von alldem wieder einmal nichts mitzubekommen schien. Nur noch ein Tag, dann sind wir weg .
Johnny kletterte über die Reling in das Beiboot, und ruderte ans Ufer, während Annie an Bord zurückblieb, um letzte Hand an Smudges Kuchen anzulegen. Johnny saß mit dem Rücken zu Frank, der Smudge auf dem Schoß hatte und sich mit ihr unterhielt. Er erklärte ihr, wie die Vögel ihre Beute ausmachten, wie ihnen die Schemen verrieten, dass direkt unter der Oberfläche Fische dahinflitzten, was die Felsformationen über die Entstehung der Landschaft aussagten; Weisheiten über primitive Lebensformen, die Johnny gestern noch in seinen Bann geschlagen hätten, ihm heute jedoch lediglich eines sagten: dass
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