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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Obwohl ihre Hand auf seinem Schenkel lag, konnte er die Distanz zwischen ihnen nicht leugnen. Er musste versuchen, die Kluft zu überwinden, ihr alles erklären, doch auch jetzt schienen die Worte nicht über seine Lippen kommen zu wollen.
    »Siehst du es denn nicht, Clem?«, flüsterte er.
    »Sehen? Was denn sehen?«, fragte sie und sah ihn an. »Was meinst du?« Sie wollte ihn verstehen, das begriff er.
    Ja – was meinte er eigentlich? Was war denn schon passiert? Gar nichts. Nichts Konkretes; nichts, was er in Worte fassen könnte. Nur ein Vater, der seine kleine Tochter auf dem Arm gehalten hatte. Sie sah ihn an, wartete darauf, dass er es ihr erklärte. Ihre Augen bohrten sich förmlich in ihn hinein. Er musste sich beruhigen. Er blickte hinauf zu den Sternen, die über ihnen am Himmel funkelten, und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. Na schön, dann würde er es mit einer anderen Taktik versuchen. »Wie fandest du Smudges Darbietung?«
    Verwirrt sah sie ihn an. »Was willst du damit sagen?«
    »Wie fandest du sie?«
    »Sehr lustig.«
    »Genau. Das fand ich auch«, sagte er und starrte wieder in die Dunkelheit. »Aber ich glaube nicht, dass er vorhatte, uns damit zum Lachen zu bringen.«
    »Wieso denn nicht?«
    Er wandte sich ihr zu. »Ich traue ihm nicht über den Weg.«
    Einen Moment lang starrte sie ihn wortlos an, ehe sie einen abfälligen Seufzer ausstieß. »Herrgott noch mal, Johnny, allmählich bin ich es wirklich leid.«
    »Er hat irgendetwas an sich … Du solltest ihm auch nicht trauen. Ich will nicht, dass du allein mit ihm bist.«
    »Was?« Wütend fuhr sie zu ihm herum. »Wieso tust du so etwas? Wieso bist du so eifersüchtig?«
    Es war schrecklich, diesen Ausdruck in ihren Augen sehen zu müssen. Kein Fünkchen Liebe war darin zu erkennen. Aber er musste sie warnen. »Man kann ihm nicht trauen.«
    Erneut zog sie ihre Strickjacke fester um sich. »Ich dachte, du hättest mehr Format.« Die Enttäuschung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so …« Sie suchte nach dem richtigen Wort, doch jedes, das ihr in den Sinn kam, schien einen schlechten Beigeschmack zu haben. »… so engstirnig bist.«
    Sie erhob sich, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, kehrte mit einer wegwerfenden Handbewegung wieder unter Deck zurück. Engstirnig. Er konnte nur hoffen, dass sie recht hatte – dass dies ihr einziges Problem an Bord war. Er spähte durchs Fenster und entdeckte Annie und Frank, wie sie den Tisch beiseiteschoben, während Clem die Karten vom Boden aufhob und ihnen beim Aufräumen half – die üblichen Tätigkeiten, als wäre dies ein ganz gewöhnlicher Abend.
    Er blieb den Rest der Nacht auf dem Deck sitzen, starrte zum Himmel hinauf, wartete, dachte nach und lauschte den Wölfen, die in der Finsternis heulten. Vielleicht befand sich der wahre Wolf ja hier an Bord. Er saß da und wartete auf das Einzige, das Rettung verhieß: Wind. Er lauschte den Wellen, spürte die ohnmächtige Wut, die in ihm hochkochte und wieder verebbte, während sich seine Gedanken sinnlos im Kreis drehten. Irgendwann machte er die Lichter eines Boots am Horizont aus und fragte sich, wer sich an Bord befinden mochte, was die Leute taten, was sie dachten. Er beneidete sie um ihre alltäglichen Sorgen. Es schien so unvorstellbar, dass das Leben überall rings um sie herum seinen gewohnten Gang ging, während seine eigene kleine Welt in sich zusammenzufallen drohte.
    Die Nacht zog sich endlos dahin, als weigerte sich die Sonne, je wieder auf sie herabzuscheinen, und als verdiente die Little Utopia nichts als immerwährende Finsternis. Aber irgendwann verstummte das Geheul der Wölfe, die Dämmerung kroch langsam über den Horizont und tauchte die Welt ringsum ein weiteres Mal in bunte Farben. Doch Johnny hatte keinen Blick für die Schönheit mehr.
    Am nächsten Tag machten sie sich auf den Rückweg von der Küste. Clemmies Dad hämmerte die ganze Fahrt über mit den Fingerknöcheln auf das Armaturenbrett. Seine Stimmung hatte umgeschlagen. Er war still und ernst, außerdem schien er sich pausenlos zu ärgern, vor allem über andere Autofahrer. Sie solle ihrer Mutter nicht erzählen, wie sie am Vortag um ein Haar aus der Walzerbahn gefallen sei, hatte er gesagt. Sie hatte es versprochen, obwohl sie es ein bisschen unfair fand, das Gefährlichste, was sie je in ihrem Leben getan hatte, verschweigen zu müssen. Aber er war nicht in der Stimmung für lange Diskussionen, deshalb wollte

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