Die Stille zwischen den Sternen
Seite ohne Wortfindungsschwierigkeiten, ohne Wort- und Buchstabenverdrehungen. Was in deinem Kopf für das innere Sprechen zuständig ist, ist intakt. Aber eine Leitung zwischen dem inneren und äußeren Sprechen ist gestört. Ob da eine Verletzung ist, die wir nicht gefunden haben, oder ob es seelische Ursachen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls wird dein Körper einen Weg finden, diesen Schaden zu beheben. Die Sprachtherapie wird dir dabei helfen.
Was deinen Gedächtnisverlust angeht, würde ich gern ebenso optimistisch sein. Aber da ist die Angelegenheit leider ein bisschen komplizierter. Seit deinem Sturz - oder was immer es gewesen ist - sind zehn Tage vergangen. Bei einer leichteren Amnesie müsste das Loch, wie du und ich es nennen, eigentlich schon verschwunden sein. Mit deiner Wanderung zum Mobilfunkmast hast du auch genau das Richtige getan. Bei vielen Menschen kehrt die Erinnerung zurück, sobald sie etwas wiederfinden, das sie kurz vor ihrem Unfall, ihrer Erkrankung oder ihrer Operation gesehen haben.
Leider hat es bei dir nicht funktioniert. Das menschliche Gedächtnis ist ein merkwürdiges Ding. Du weißt bestimmt, wie das ist, wenn du zum Beispiel einen Namen
vergessen hast. Solange du dich mit aller Macht zu erinnern versuchst, wird dir der Name garantiert nicht einfallen. Und dann wachst du eines Morgens auf - und hast ihn. So ähnlich wird es auch bei dir sein. Vielleicht siehst du eine bestimmte Farbe, die den Knoten löst. Oder du erschrickst fürchterlich. Oder du hast einen Traum, der deine Erinnerung zurückkehren lässt. Oder du sprichst wieder - und erinnerst dich.
Die größten Sorgen macht mir natürlich der Anruf, den dein Vater bekommen hat. Du hast auf dem Katzenberg etwas gesehen, das nicht für deine Augen bestimmt war. Und jetzt haben irgendwelche Leute Angst, dass du das ausplauderst. Sie wissen offenbar nicht, dass du dich nicht erinnern kannst, dass ihnen im Moment gar keine Gefahr droht. Sie wollen dich zu etwas zwingen - zum Schweigen nämlich -, was du sowieso schon tust. Das ist ein Witz, aber ein verdammt schlechter, wie ich finde.
An deiner Stelle würde ich Kommissar Winter von dem Anruf erzählen. Vielleicht gibt ihm das sogar einen Anstoß zu neuen Ermittlungen. Ich glaube, er ist ein guter Polizist. Dass er dich wegen der Bombe im Verdacht hat, zeigt das ja. Was soll schon groß passieren, wenn du ihm das mit der Bombe gestehst? (Er muss ja nicht die ganze Vorgeschichte wissen.) Die Bombe ist nicht hochgegangen, es hat nur ein bisschen Aufregung gegeben, kein Mensch spricht mehr davon. Deine Eltern werden für den Polizeieinsatz zahlen müssen. Das gefällt ihnen sicher nicht. Aber andererseits werden sie froh sein, wenn sie nicht aus der Zeitung erfahren, was
du angestellt hast. Du bist neugierig, Jonas. Deshalb hätte ich mich auch gewundert, wenn du nicht gefragt hättest, wer dieser Junge ist, von dem ich dir erzählt habe.
Ich hatte zwei Brüder. Der eine hieß Martin und war zwei Jahre jünger als ich. Der andere hieß Wolfgang und war noch einmal einige Jahre jünger als Martin. Irgendwann waren die beiden allein in der Stadt unterwegs, meine Mutter hatte sie zum Einkaufen geschickt. In der Fußgängerzone stand die Ruine eines Kirchturms. Wahrscheinlich hat Martin für einen Moment nicht aufgepasst, jedenfalls kletterte Wolfgang plötzlich von außen am Turm hoch. Martin schrie, er solle sofort runterkommen. Aber Wolfgang hörte nicht auf ihn. Also kletterte Martin hinter ihm her.
Er hat nie erfahren, ob er Wolfgang erreicht, ob er ihn festgehalten hat. Er bekam nie heraus, ob er abgerutscht ist oder ob sie beide gemeinsam abgestürzt sind. Es gab leider keine Zeugen. Er wachte ein paar Tage später mit gebrochenen Armen und Beinen im Krankenhaus auf und erfuhr von meinen Eltern, dass Wolfgang tot war. Mein Bruder hat damit nicht leben können, Jonas, letztes Jahr ist er gestorben. Der Unfall hat am Ende ein zweites Opfer gefordert.
Genug davon. Bevor ich mich für ein paar Stunden hinlege, deponiere ich unser Buch an der Pforte.
Halt die Ohren steif, Jonas!
Dein Doktor Bach
Hallo, Doc!
Das mit Ihren Brüdern tut mir sehr leid. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Alles, was mir einfällt, sind dumme Sprüche. Deshalb lasse ich es lieber. Jedenfalls geht es mir im Vergleich zu Ihrem Bruder noch richtig gut. Ich muss mir zum Glück nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob ich am Tod eines Menschen schuld bin.
Haben Sie keine Angst, dass Sie mir
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