Die Stille zwischen den Sternen
Corinna grüßen«, sagte er.
Von Corinna? Das glaubst du doch wohl selber nicht!
Ich nahm den Block und schrieb: »Mädchen, 14 oder 15. Schlank. Blond, Pferdeschwanz. Ein Auge braun, ein Auge grün. Kennst du sie?«
»Du hast vielleicht’ne Klaue«, sagte Kim und schloss die Augen. Wahrscheinlich ließ er sämtliche Mädchen von Schwatten an sich vorbeistiefeln.
»Drei«, sagte er irgendwann. »Mir fallen bloß drei ein, auf die deine Beschreibung passt. Was willst du von dem Mädchen?«
»Finden«, schrieb ich.
Kim stand auf. »Dann mal los, Alter. Schauen wir sie uns an.«
»Du nicht.«
Er lachte. »Keine Angst, Jonas. Corinna reicht mir.«
Er boxte mich gegen die Schulter. »Wie du willst. Zwei von den dreien findest du heute Nachmittag unter Garantie im Freibad. Die dritte wohnt in der Kurfürstenstraße.«
»Die ist lang.«
»Genauer weiß ich es nicht«, sagte Kim.
Nach dem Mittagessen entschied ich mich, zuerst zur Kurfürstenstraße zu fahren. Wenn ich das Mädchen nicht innerhalb der nächsten Stunde fand, war das Freibad dran. Die Uhr zeigte kurz vor drei. Um diese
Zeit ging kein vernünftiger Mensch schwimmen. Da stolperte man bloß über kleine Kinder.
Ich hatte Glück. Ach was, ich hatte Schwein, Pferd, Hase, was Sie wollen, Doc! Aber der Reihe nach: Ich war schon fast am Ende der Kurfürstenstraße, da sprang mir die Kette ab. Sie verklemmte sich zwischen Rahmen und Schaltung, um ein Haar wäre ich gestürzt. Zuerst hatte ich Angst, sie wäre gerissen. Doch nachdem ich das Hinterrad ausgebaut hatte, sah ich, dass es kein Problem sein würde, sie wieder auf die Ritzel zu spannen. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Hauses gegenüber und das Mädchen kam heraus. Das Mädchen, das ich suchte. Es war ein Wunder, Doc, ein echtes Wunder.
»Hallo«, sagte sie, während ich auf der Straße hockte, die Hände schwarz vom Öl, und nicht wusste, wo ich sie verstecken sollte. In diesem Augenblick hätte ich alles getan, um sprechen zu können. Wirklich alles.
Ich wischte die Finger an der neuen Jeans ab, nahm den Schreibblock vom Gepäckträger, fingerte den Kuli aus der Hosentasche und schrieb: »Hallo. Erinnerst du dich?«
»Klar, Stadtpark«, sagte sie. »Kriegst du die Kette allein wieder drauf?«
Ich konnte zwar nicht reden, aber meine Finger funktionierten noch.
»Die Hände kannst du dir bei uns waschen. Hinterm Haus gibt’s einen Wasserhahn. Ich bin Rieke.«
Ich fummelte die Kette in Rekordzeit auf die Ritzel und lief hinters Haus. Das Mädchen besorgte mir ein
Stück Seife und eine Bürste. Die Jeans würde meine Mutter allerdings in die Reinigung bringen müssen.
»Na, dann mach’s mal gut«, sagte Rieke.
Das sollte es schon gewesen sein? Schnell kritzelte ich auf meinen Block: »Eis? Erdbeer, Schokolade? Amarenabecher? Bananen-Split?«
Als sie las, was ich hingeschmiert hatte, lachte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
Ich legte die Hände zusammen und schaute sie an wie der Dackel von Hoffmanns nebenan.
Rieke grinste und ich schrieb: »Ich lade dich ein.«
Immer noch zögerte sie. Ob es bei Kim und seinen Freundinnen auch so lange dauerte? Hatte sie etwa Angst, mit mir gesehen zu werden? Oder schämte sie sich?
»In Ordnung«, sagte sie endlich. »Aber viel Zeit habe ich nicht.«
Wir gingen in den Eissalon am Stadtpark. »Dolomiti« heißt er. Vielleicht kennen Sie ihn, Doc. Ich ließ Rieke für mich ein Spaghettieis bestellen, sie selbst nahm einen Schwarzwaldbecher. Ohne Kirschwasser.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie, nachdem uns die Bedienung die Eisbecher gebracht hatte.
»Jonas«, schrieb ich.
»Guten Appetit, Jonas.«
Eine Weile löffelten wir schweigend unser Eis. Rieke öffnete ein paar Mal den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, tat es dann aber doch nicht.
Schließlich nahm ich meinen Kuli und schrieb auf den Block: »In welche Schule gehst du?«
»Heinrich-Böll-Gymnasium«, antwortete sie. »Ich komme in die Neunte. Und du?«
»Wolfgang-Borchert.«
Rieke schaute mich überrascht an. »Komisch, ich habe dich nie in der Stadt gesehen.«
»Ich dich auch nicht.«
Wieder schwieg sie. Ich wartete darauf, dass die Frage kam, die kommen musste. Wollte sie gar nicht wissen, was mit mir los war?
Doch, sie wollte. »Wie lange hast du das schon?«, fragte sie. »Ich meine, seit wann kannst du nicht sprechen?«
»Paar Tage.«
Rieke dachte nach. »Seit ein paar Tagen?«, fragte sie dann. »Aber im Stadtpark konntest du es auch
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