Die Stimme des Blutes
vorzunehmen. Ohne dich könnte ich mir keine größeren Herden anschaffen, keine Krieger anheuern, keine Bauern heranholen und mir keine Annehmlichkeiten im Hause leisten. Nur durch dich, Daria, kann ich jetzt und nicht erst in nebelhafter Zukunft meinem Heim zu seinem früheren Glanz verhelfen.«
Es war und blieb sein Heim. Genauso wie alles, was sie ihm in die Ehe eingebracht hatte, seins war. Sie schob ihn weg, schlüpfte an ihm vorbei, rannte über den schmalen Laufsteg auf dem Wall und klomm die Leiter zum Innenhof hinunter. Auch im Zorn bewegte sie sich vorsichtig, weil sie dabei an ihr ungeborenes Kind dachte.
Er wandte sich ab und nahm ihren Platz an der Wallmauer ein. Der Wind wurde stärker, und es roch nach Regen. Plötzlich dachte er an seinen Vater. Was würde er wohl darüber denken? Er sah sein Gesicht vor sich, als er ihm von Joan of Tenesbys Treulosigkeit erzählt hatte. Er hatte noch seine tiefe, leise Stimme im Ohr, als er seinem Zweitältesten Sohne sagte:
»Hör mir einmal gut zu, Roland! Man hat dich zum Narren gehalten, mein Junge, aber es hat dich nicht umgebracht. Dein Herz ist schwer und dein Stolz verletzt, weiter nichts. Du wirst nicht lange um sie trauern. Aber wenn du eines Tages hörst, daß ein Mann Joan of Tenesby heiratet, wirst du Mitleid mit dem armen Kerl haben, der nicht so glücklich davonkam wie du. Von jetzt an wirst du in diesen Dingen vorsichtiger sein. Und wenn es für dich an der Zeit ist zu heiraten, wirst du wissen, worauf du bei einer Frau zu achten hast und von welchen Frauen du lieber die Finger läßt. Ehrlichkeit ist selten unter den Menschen, ob Mann oder Frau, zu finden. Wenn du eine ehrliche Frau findest, dann hast du viel gewonnen.«
Ehrlichkeit, dachte Roland. Ehrlichkeit war wirklich selten. Er hatte sie nicht gefunden.
Er trat von der Mauer zurück. Nein, er hatte keine Ehrlichkeit gefunden, und er selber wurde mit jedem Tag unehrlicher.
Heute morgen hatte er Daria an sich gezogen und sich auf sie gelegt. Da hatte er plötzlich die kleine Wölbung ihres Leibes gespürt. Das hatte ihn wahnsinnig gemacht. Er hatte sie hastig genommen und sie dann allein gelassen. Er fragte sich, ob ihr Kind dem Grafen von Clare ähnlich sehen würde.
Katherine of Fortescue fühlte sich wunderbar. Sie saß in dem kleinen Obstgarten mit Apfel- und Birnenbäumen an der Rückseite der Burg. Es war ein warmer Tag, die Sonne gab ihr Bestes, aber die dichtbelaubten Äste des Apfelbaums spendeten ihr genügend Schatten. Sie war damit beschäftigt, mit geübter Hand ein
Kleid für ihre Tochter zu nähen. Dabei summte sie vor sich hin. Darüber mußte sie selber staunen, denn sie hatte geglaubt, sie hätte es längst verlernt, so fröhlich zu sein. Schließlich begann sie sogar zu singen. Sie hatte zwar keine große, aber eine klare Stimme. Sie hörte erst auf, als sie Sir Thomas hinter sich lachen hörte.
Sie drehte sich um und sagte lächelnd: »Seid Ihr gekommen, um diesen schrecklichen Tönen ein Ende zu machen, Sir?«
»Nein, ich bin gekommen, um meine alten Knochen zu wärmen.«
»Alte Knochen! Wie könnt Ihr so was sagen! Ihr seid doch immer noch ein junger Mann.«
»Wenn Ihr es sagt, will ich keine Einwendungen erheben.« Er setzte sich neben sie auf die schmale Steinbank.
Katherine sah Sir Thomas in die Augen und sagte: »Ich finde es schön, daß Ihr noch nicht abgereist seid.«
»Roland hat mich gebeten, noch zu bleiben.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Ich weiß aber nicht... Eure liebe Tochter ... Nein, fragt mich nicht, Katherine! Ich weiß auch nicht, was zwischen den beiden vor sich geht. Ich diene ihnen als eine Art Prellbock. Meine Anwesenheit verhindert vielleicht, daß es zu einem Krach zwischen ihnen kommt. Meint Ihr, ich solle lieber abreisen?«
Sie schüttelte den Kopf und machte geschickt den nächsten Stich.
»Ihr seid eine Frau, die ein gutes Urteilsvermögen besitzt. Ihr mischt Euch nicht ein und kommt Eurem Schwiegersohn mit freundlicher Achtung entgegen. Wenn Ihr das bleiche Gesicht Eurer Tochter seht, drückt Ihr ihm kein Mißfallen aus. Und Ihr sagt Eurer Tochter nicht, was sie falsch macht und wie sie es ändern könnte.«
»Ich bin einfach zu faul dazu, Sire!« sagte sie lächelnd.
»Das stimmt nicht, Mylady. Ihr schweigt aus Klugheit und aus Liebe zu Eurer Tochter.«
»Das ist ein Kompliment, Sir Thomas, und genau wie Ihr erhebe ich keine Einwendungen.«
Sir Thomas druckste eine Weile herum. Dann sagte er: »Wißt Ihr, was ich
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