Die Stimme des Wirbelwinds
»Er braucht spezielle Pflege, vierundzwanzig Stunden am Tag. Dieses Bild kommt aus dem Stationshospital.«
Steward sah Natalie an und fand die Sprache wieder. »Wird er gesund werden?«
Sie zuckte die Achseln. »Er wird nie sprechen lernen, aber ansonsten ist sein Geist in Ordnung. Er lernt schnell, wenn ich ihn für irgendwas interessieren kann, aber es ist schwer, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er einen Job findet, kann er per Fernsteuerung von seinem Zimmer im Hospital aus arbeiten. Er wird sich sogar einen Teil seiner Unterhaltskosten verdienen können.«
»Weiß er, daß wir ihn sehen?«
»An der Kamera ist eine rote Lampe, deshalb weiß er es, wenn er beobachtet wird. Aber jetzt macht er Musik und achtet nicht darauf.« Sie drehte das Gesicht zum Schirm. »Das macht er stundenlang. Musik interessiert ihn mehr als alles andere.« Die Finger des Jungen schlugen einen Akkord an, der aus den Lautsprechern heulte. Natalies Augen wurden weich. »Seinetwegen bin ich hier auf Neue Menschheit. Niemand sonst wollte mich aufnehmen, nicht wenn ich mit Andrew gekommen wäre. Aber Neue Menschheit war verzweifelt auf der Suche nach Biologen für ein Projekt zur Entwicklung einer neuen Flechtenart, die sie zur Aufspaltung von Asteroidenmaterial benutzen wollten; sie sollte Sauerstoff und Wasser für eine spätere Entnahme speichern. Das Team hätte es fast geschafft.« Sie biß sich auf die Lippe. »Aber Neue Menschheit konnte die Idee nicht zu Geld machen. Wir hatten nicht die Ressourcen, um es selbst zu machen. Also habe ich jetzt einen neuen Job; eine Sackgasse. Aber Andrew hat immer noch ein Zuhause. Neue Menschheit hat sich nicht davor gedrückt. Bei vielen Veränderten des alten Stils geht früher oder später etwas schief – die Klinik hier ist sehr gut.«
Steward dachte an den Froschmenschen, den er in dem verlassenen Komplex gesehen hatte, an seine Fremdartigkeit und die unheimliche Stimme: Bazillen, wissen Sie. Tief in seinem Sinus war ein Schmerz. Er sah Andrew wieder an und bemühte sich, nicht zu erschauern. Seine Chromosomen, kaputt. Seine Liebe in Scherben. »Ich möchte euch helfen«, sagte Steward.
Natalie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Problem, oder?«
»Es sind auch meine Gene.«
»Falsch. Deine Gene und die Hälfte von Andrews Genen stammen von derselben Quelle. Er ist nicht dein Sohn, sondern dein Halbbruder. Das ist alles.«
»So einfach ist das nicht.«
Ihr Blick war kalt. »Ich will nicht dein neuer Kreuzzug werden, Steward«, sagte sie. »Ich bin nicht daran interessiert, das Objekt deines gegenwärtigen Kampfes um Gerechtigkeit zu sein. Der … Alpha – er hat einen Kreuzzug nach dem anderen mitgemacht. Immer hat er versucht, etwas Richtiges zu finden, egal wo. Sachen, die für alle anderen längst schon kein Thema mehr waren. Und die ganze Zeit über« – sie nickte zum Bildschirm hin – »war es das, womit er nicht fertig wurde. Er gab sich die Schuld, weil er mit kaputten Chromosomen von Sheol zurückgekommen war. Er fand heraus, daß es nicht reichte, schnell und hart zu sein, daß es Arten von Zen gab, die ihm zu hoch waren. Er dachte, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn er gestorben wäre. Und so ist er hinter jeder guten Sache hergejagt, die er finden konnte, so daß er nicht damit leben mußte, was er Andrew seiner Meinung nach angetan hatte.«
Sie streckte die Hand nach dem Monitor aus und schaltete ihn ab. Die Musik hörte mitten im Akkord auf. Steward schaute auf den leeren Schirm und spürte, wie kleine Teile von ihm selbst – seine Hoffnung, seine Lebenskraft – starben. Er erinnerte sich an die Stimme auf der Videoaufnahme, an das Klirren von Glas auf Glas. An den rauhen Schrei, der in der Stimme eingeschlossen war.
Natalie trank den Rest ihres Kaffees aus, schwebte durch das Zimmer und stellte den Ballon ins Regal. Sie drehte sich zu Steward um. »Ich habe vor Jahren meinen Frieden mit allem gemacht. Ich habe keine Gefühle und keine Energie mehr übrig, mich mit ihm zu befassen, mit dem, was er war. Ich … empfinde überhaupt nichts mehr, was das betrifft. Er bedeutet nichts. Und du auch nicht. Mir jedenfalls nicht.«
»Ich bin nicht er«, sagte Steward und fragte sich, ob das die Wahrheit war.
Natalie sah ihn scharf an. »Was machst du dann hier?«
»Ich kann euch helfen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir brauchen deine Hilfe nicht, keiner von uns. Uns geht es hier gut. Als der Alpha getötet wurde, stellten wir fest, daß er ein paar
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