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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Robert hinüber, und auf einmal war mir entsetzlich klar, was geschehen würde, und ich wandte das Gesicht ab, während ich stumm vor Schreck betete, daß sie seine Augen verschonten. Ich verbarg zwar das Gesicht in den Händen, aber den dumpfen, monotonen Laut der Pferdepeitsche und die furchtbaren Schreie meines einst so fröhlichen Freundes konnte ich nicht aussperren. Als die Peitsche aufhörte, sah ich, wie er sich im Staub wand, sein auffälliger, farbenprächtiger Mantel war zerfetzt und er selber darinnen auch. Der Anführer versetzte ihm einen Tritt, der ihn auf den Rücken warf, überprüfte das Werk seiner Hände mit einem befriedigten Lächeln, und der Trupp saß auf und ritt davon wie der Wind. Blut stürzte Robert aus der Nase und lief aus Kopfwunden, ein Auge war zugeschwollen, doch das andere bekam er auf und blickte damit seine Freunde, die ihn umringten, jämmerlich an. Sie wollten ihn aufheben, doch er wehrte ab, bewegte die blutenden Lippen und sagte:
    »Nicht anfassen. Es tut alles so weh. Laßt mich hier sterben. Spielmannslos: man verreckt im Straßengraben.«
    Hilde und ich knieten uns neben ihn hin. Er blickte mich an und sagte gebrochen:
    »Sieh mich nicht so an, Margaret. Ich möchte nicht, daß du mich so – gänzlich zerschlagen – in Erinnerung behältst. Wenn ich tot bin, erinnere dich an einen lachenden Robert.«
    »Aber Ihr sterbt doch nicht, Master Robert. Ihr blutet nur sehr stark, und Ihr habt Wunden am Kopf. Aber von Tod ist nichts um Euch.«
    »Woher willst du das wissen?« sagte der Kleine William.
    »Ich spüre nichts Schwarzes, Saugendes rings um ihn. Daher.«
    »Wir können ihn doch nicht aufheben, und er kann nicht laufen, und im Krug von Abingdon heißt man uns gewiß nicht willkommen, wenn wir zurückkehren, welchen Unterschied macht es also? Die Wunden da werden eitern, und daran stirbt er uns hier draußen. Das ist der Nachteil des freien Lebens, Margaret. Man kann nicht nach Haus, wenn man krank wird.«
    »Laßt Margaret helfen«, schlug Mutter Hilde vor, »sie versteht sich auf derlei.«
    »Margaret? Nützlich? Erstaunlich!« sagte Bruder Sebastian.
    »Holt mir Wasser, denn zunächst müssen wir ihn ganz säubern«, sagte ich. Sanft wusch ich ihm das Blut und den Dreck ab, wobei mich manches schaudern ließ, dann legte ich ihm der Reihe nach die Hände auf die Wunden. Ich schloß die Augen und versetzte meinen Geist in jene besondere Verfassung, welche alles und nichts zugleich ist, bis ich spürte, wie mir die Wärme in die Hände stieg und sich mein Rückgrat von oben bis unten wie ein heißer, stählerner Stab anfühlte. Zuerst den Schädel mit dem kurzgeschnittenen Haar, dann das blaue Auge, den zerschmetterten Kiefer, den zerschlagenen Leib…
    »Was zum Teufel tust du da, Margaret?« wollte Master Robert wissen. »Die Stellen, wo du die Hände aufgelegt hast, tun nicht mehr so weh.«
    »Sch! Sch! Laßt sie zu Ende machen«, flüsterte Mutter Hilde.
    »Seht euch das an, er blutet nicht mehr. Die Wunde da sieht aus, als wäre sie schon fast verheilt«, sagte der Kleine William. Geschafft. Eine furchtbare Mattigkeit überkam mich, so als wäre meine Kraft auf Master Robert übergegangen.
    Der setzte sich auf und betastete sich behutsam. Er war noch nicht wieder ganz der Alte, doch die frischen Beulen sahen so grün aus, als wären sie schon eine Woche alt, und auch die anderen Wunden wirkten, als ob er schon viele Tage zur Genesung das Bett gehütet hätte.
    »Es steht wohl nicht zu hoffen, daß du dich auf Mäntel ebenso gut verstehst, wie?« fragte er erwartungsvoll, rieb sich das Kinn und betrachtete gleichzeitig voller Bedauern seinen zerfetzten Ärmel.
    »Nein«, erwiderte ich. »Bei Mänteln hilft es nicht. Bei Menschen aber auch nicht immer.«
    »Du siehst ja ganz blaß aus, Margaret. Was hast du eigentlich mit mir angestellt?«
    »Das weiß ich nicht so recht. Das hat vor einer Weile einfach so angefangen. Es kommt von irgendwoher, geht durch mich hindurch und hilft den Menschen, sich selbst zu heilen.«
    »Ei, unsere Margaret eine Gesundbeterin! Wer hätte das gedacht?« freute sich Bruder Sebastian. »Denk nur, Margaret, du wirst reich! In der nächsten Stadt schlagen wir die Trommel, und dann kannst du Leute heilen. Krüppel werden aufschreien und ihre Krücken fortwerfen! Kleine, hübsche, blinde Mädchen, das Kleinod ihrer Eltern, werden rufen ›Ich kann sehen! Ich kann sehen!‹ Alles weint und schreit, und wir sammeln Geld, Geld, Geld ein!«
    »Das

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