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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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über sein Gesicht, quer über den Nasenrücken und entstellte eine Wange. Er trat in den Feuerschein und ergriff mit der Hand mein Kinn, um mein Gesicht zu mustern. Ich schnappte nach Luft. Selbst mit der Narbe wußte ich, wer er war.
    »Bruder Will!«
    »Margaret? Wieso zum Teufel lebst du noch?«
    »Das gleiche könnte ich dich fragen. Wieso bist du nicht mehr beim Heer?«
    »Also, Jungs, hat sich was mit Kurzweil – das ist meine lang verlorene Schwester.« Man konnte die Männer knurren hören. »Und morgen lade ich euch alle zur Dicken Martha ein.«
    Noch mehr Geknurre.
    »Aber Bruder…«
    »Kein aber jetzt, Schwester – Erklärung später. Siehst du denn nicht, daß ich mit diesem Haufen alle Hände voll zu tun hab'? Räuberhauptmann ist nämlich keine Sinekure.«
    »Und wir«, eilte Master Robert ihm gewandt zu Hilfe, »wir spielen jetzt die Geschichte von dem Wandermönch und der Händlerstochter. Gebt mir bitte die Trommel, ja? Sie befindet sich ganz oben auf dem Esel dort drüben.« Und als die Trommel einsetzte, da wußten wir, daß wir den nächsten Morgen wahrscheinlich noch heil und ganz erleben würden.
    Spät in der Nacht, als wir uns alle in Decken gewickelt um das Feuer der Räuber gelagert hatten, stupste mich Bruder Sebastian an.
    »Margaret, schläfst du?« raunte er.
    »Nein, Bruder Sebastian, ich betrachte die Sterne und überlege, wie lange ich die wohl noch sehen werde.«
    »Das sind unnütze Überlegungen, Margaret. Entweder das eine oder das andere. Sag mir lieber: wie um Himmels willen bist du zu so einem Bruder gekommen?« Sein Geflüster war eine Mischung aus Neugier und Entsetzen.
    »Er ist ein Stiefbruder. Wir sind nicht blutsverwandt.«
    »Ach, daher also. Ihr seht euch auch nicht sehr ähnlich.«
    Am nächsten Abend spielten und sangen die fahrenden Sänger wie vor einem hohen Herrn. Bruder Will hatte mich auf den Ehrenplatz neben sich gesetzt, und als die Musik und die Getränke alle heiter gestimmt hatten, beugte ich mich vor und fragte ihn:
    »Bruder, hast du denn gar keine Angst vor dem Sheriff hier? Du scheinst kaum Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, ich fürchte für deinen Kopf.« Den warf er jetzt zurück und lachte schallend.
    »Vor dem Sheriff? Vor dem? Ei, wir arbeiten doch für Sir Giles höchstpersönlich! Warum sollten wir uns da Sorgen machen?«
    »Ihr arbeitet für ihn?«
    »Natürlich, Schwester. Er kriegt Prozente. Davon kann er sein Herrenhaus laufend instandsetzen.« Und als Reaktion auf meine entgeisterte Miene setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß du das begreifst, Schwester, Du bist immer so weltfremd und tugendsam gewesen. Räuberei ist dieser Tage Mode. Die besten Leute halten sich Räuber. Ja, sogar Klöster wie Rufford und Kirkstall unterhalten eigene Banden. Heutzutage müssen viele Dächer instandgesetzt werden, Margaret, und gute Ziegel kommen teuer.« Dann lachte er wieder über meine Miene.
    »Aber, Bruder, ich dachte, du wärst in Frankreich und ein Held. Wie bist du denn in dieses Gewerbe geraten?« fragte ich ihn.
    »Ach, Margaret, ich war doch ein Held, denn der Krieg gefällt mir noch besser als Hundekämpfe. Man hat uns Bogenschützen in die Schlacht geworfen, und wir sind über die französischen Edlen hergefallen! Schossen die Pferde unter ihnen weg, wateten dann hinein und schnitten ihnen die Kehle durch, wo sie heruntergefallen waren. Du hast ja keine Ahnung, was für ein Spaß das ist, über so einem großen Herrn zu stehen, den seine schwere Rüstung in Matsch zieht, der auf dem Rücken liegt und um sein Leben fleht! Dann schiebt man einfach das Messer durch den Spalt in seiner Rüstung und schneidet ihm die Kehle durch. Wie sie kreischen! Und das Blut überall!« Bei dem Gedanken daran bekam er ganz verträumte Augen.
    »Aber anscheinend hab ich ein paar Kehlen zuviel durchgeschnitten. ›Heda, Bogenschütze, aus dem Mann wollte ich Lösegeld schlagen! Hast du denn nicht gehört, wie er dir gesagt hat, daß er ein großer Mann ist?‹ sagt Mylord. ›Tut mir leid, Sir, ich kann nicht parlee wu; ich hab gedacht, ich soll sie alle umbringen.‹ So hab ich mir Ärger eingehandelt und es fast nicht mehr nach Haus geschafft. Bin mit Rob zurück – war das öde, öde. Keiner mehr zu Haus. Die Hälfte gestorben. Der Rest nach St. Matthew's gezogen. Vater tot, Mutter geht's gut. Rob bleibt also. Heiratet diese blöde Schlingpflanze Mary, die jetzt alles erbt, was ihre Familie hat – aber ich, ich hab's nicht ausgehalten. Fürwahr, das

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