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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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läuft nicht, Bruder Sebastian; das läuft ganz und gar nicht.« Ich war furchtbar erschöpft.
    »Lieber Sebastian, sie kann das so nicht machen – je schlimmer nämlich die Verletzung ist, desto mehr Kräfte raubt sie ihr. Ein, zwei Tage Gesundbeten würden sie umbringen. Außerdem habe ich noch nie gesehen, daß sie derlei öffentlich gemacht hätte. Es könnte sich verflüchtigen, wenn sie damit auftritt.«
    »Und damit auch unser erstes Vermögen«, seufzte Bruder Sebastian wehmütig. »Hätte ich mir ja denken können; es war zu schön, um wahr zu sein.«
    »Und wen tragen wir nun?« unterbrach ihn Tom. »Robert oder Margaret?«
    »Keinen von uns«, sagten wir beide einstimmig.
    Maistre Robert stand auf und klopfte sich äußerst würdevoll den Dreck ab, hob seinen kurzen Mantel auf und warf ihn sich schwungvoll um. Dann verneigte er sich und deutete zum Sattelknopf von Mollys Packsattel. » Après vous, Madame «, sagte er. Ich legte ihr die Hand auf den Rist und stützte mich auf sie. Er ging auf der anderen Seite und lehnte sich auf das Gepäck, denn er humpelte immer noch. Als wir uns zusammen in Bewegung setzten, konnten wir hören, wie Bruder Sebastian immer noch vor sich hinbrummelte:
    »Und ich sage es noch mal, wir verpassen eine großartige Gelegenheit. Einen Trompeter hätten wir anstellen und eine große Fahne anfertigen lassen können. Ei, was hätten wir nicht alles tun können – Könige, Fürsten, Orte im Ausland… Ganz zu schweigen davon, welchen Aufschwung mein Handel mit Reliquien genommen hätte…«
    Wir kamen nur langsam voran. Das nächste Dorf lag verlassen, und nach langer Zeit erst fanden wir einen Gasthof und etwas zu essen. Danach ging es weiter, bis wir in die Nähe des Rockingham-Waldes kamen. Alle waren der Meinung, das Lager lieber in gebührender Entfernung vom Wald aufzuschlagen, als zu riskieren, die Nacht dicht davor oder darin zu verbringen – ein gewagtes Unterfangen zu wilden Zeitläuften mit Wegelagerern und entlaufenen Leibeigenen.
    »Die Bänkelsängerei ist auch nicht mehr das, was sie einmal war«, knurrte Master Robert an jenem Abend am Feuer. »All die vielen Toten sind schlecht fürs Geschäft. Es gibt doch nur noch Sauertöpfe, religiöse Fanatiker, Bürgermeister, die keinen Spaß vertragen – England ist einfach nicht mehr wie früher. Es ist nicht mehr fröhlich. Ihr könnt mir glauben, die alten Zeiten waren besser.«
    »Die alten Zeiten sind immer besser«, gab Bruder Sebastian zurück. »Und je älter sie werden, desto besser werden sie. Das kommt daher, daß man sich nicht mehr so gut daran erinnert. Doch wenn man erst dahinterkommt, daß die Kehrseite der Katastrophe die Gunst der Stunde ist, etwas, worauf ich früher schon hingewiesen habe, dann erkennt man, daß die Zukunft mehr zu bieten hat als die Vergangenheit. Heutzutage hat man schier unbegrenzte Möglichkeiten, gemessen an der Katastrophe, die uns bereits ereilt hat.«
    »Bruder Sebastian, nehmt es mir bitte nicht übel, aber Ihr seid komplett verrückt. Je weiter wir in die Zukunft reisen, desto mehr nähern wir uns doch dem Ende der Welt. Ich für meinen Teil bin nicht erpicht darauf, vor dem Jüngsten Gericht zu stehen. Ich befürchte, ich schneide dabei noch schlechter ab als bei den Henkersknechten des Bürgermeisters«, erwiderte Master Robert.
    »Ach was«, sagte ich. »Wie wollt Ihr das wohl beweisen?«
    »Margaret, du bist ein liebes, kleines Dummerchen vom Lande, sonst würdest du das nicht sagen. Ich verdiene mir den Lebensunterhalt mit Lügen und Unzucht. Selbst die Kirche sagt, daß ich der ewigen Verdammnis anheimfalle.«
    »Kann sein, ich bin dumm, Master Robert, aber mir scheint, daß auf Eurer Liste noch Mord fehlt. Damit steht Ihr weitaus besser da, als die meisten dieser Tage. Und wer weiß, vielleicht rechnet Gott Euch auch an, daß Ihr viele Leute zum Lachen gebracht habt.«
    »Margaret«, antwortete er, und ein Abglanz seines früheren Lächelns huschte über sein Gesicht, »du nimmst alles viel zu ernst. Das tut nicht gut. Damit handelst du dir noch lange vor dem Jüngsten Gericht Ärger ein.«
    »Ja, wirklich, Margaret«, vermahnte mich Bruder Sebastian. »Das tut ganz entschieden nicht gut. Es führt dazu, daß du dein Herz an Dinge hängst, die du zu gern haben möchtest. Und Festhalten bedeutet Ärger. Du kennst ja meinen Spruch: ›Leichter Fuß und leichter Sinn‹. Halte nie zu sehr fest und dich nie zu lange auf. Sonst gerätst du noch schlimm in die Tinte.« Und

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