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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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so sagte denn mein Meister zu mir ›eines können wir noch versuchen. Einst habe ich um Christi willen eine Waffe gegen den Tod geschmiedet. Holt mir die kleine Wehmutter, die in der Diebesgasse wohnt, und bringt sie hierher.‹
    Es ist bitter für meinen Meister. Wir kennen Isabel doch alle. Es ist noch gar nicht so lange her, da war sie ein niedliches, kleines Mädchen und spielte an der Esse. Er hat sie mehr geliebt, als das auf dieser bösen Welt guttut. Kinder leben doch nur, um wie Gras dahingemäht zu werden, und man sollte sich hüten, sie allzu zärtlich zu lieben!« Er seufzte tief und blickte mich an. Ich wußte nur eine Antwort:
    »Und ist es dennoch nicht besser zu lieben und Gram in Kauf zu nehmen, als im Herzen zu frieren?«
    »Nicht, wenn der Kummer gewiß ist, finde ich«, gab er zurück.
    Mittlerweile hatte der Torwächter das Türchen mit seinem riesigen Schlüssel geöffnet. Er war unwirsch, daß man ihn geweckt hatte, und machte einen ziemlichen Wirbel, aber einen Passierschein vom Bürgermeister muß man respektieren. Ein Glück, dachte ich, daß Master John so berühmt ist und so gute Beziehungen hat, sonst hätte er seine Männer nicht so kurzfristig nach diesem Dokument ausschicken können. Die Tür öffnete sich mit einem vereisten Knarren, wir führten die Pferde zu Fuß hindurch und stiegen auf der anderen Seite wieder auf, um unseren Weg fortzusetzen. Die Luft war totenstill, es gab nur den dumpfen Aufschlag der Hufe und das Knirschen der Geschirre, während sich die Pferde auf der eisglatten Landstraße fortbewegten. Im Dämmerschein der Laternen konnten wir in der Dunkelheit nur ein paar Ellen weit sehen – ein Stück ausgefahrene Straße, die Atemwolken, welche die Pferde ausstießen, und unsere eigenen. Nie hätte ich gedacht, daß der Ritt so lange dauern könnte. Als wir Johns Haus erreichten, war ich bis aufs Mark durchgefroren.
    Das Haus war sowohl über als auch neben die große Waffenschmiede gebaut, so als hätte man es im Nachhinein dort angeklebt. Das Erdgeschoß gehörte noch zum steinernen Schmiedegebäude, wohl als Brandschutz und als Zeichen der Wohlhabenheit des Meisters gedacht, doch im ersten Stock, unter dem hohen, ziegelgedeckten Dach, wechselten Holz und Stein ab. Sie bildeten ein kaum wahrnehmbares Schattenmuster über der hohen, reich geschnitzten Holztür des Anwesens. Durch die Ritzen sämtlicher Läden im Wohnteil des Hauses drang Licht, als wir die Außentreppe zum ersten Stock hochstiegen. Auf das Klopfen der Männer entriegelte man die Tür; diese bliesen die Kerzen in den Laternen aus, als wir zusammen das Unglückshaus betraten. Einer Frau, wohl die Mutter, hatte der Gram die Sinne geraubt, die Wehmutter machte sich um sie zu schaffen. Der Arzt saß mit dem Waffenschmied am Feuer und erläuterte etwas auf Latein – oder vielleicht auch auf Französisch –, ich wußte es nicht.
    Das Mädchen lag schon wie ein Leichnam auf einem Bett in einer Wandnische am anderen Ende des Zimmers aufgebahrt. Man hatte ihr die Decken über den gewölbten Leib und bis zum Hals hochgezogen, und auf einem Tischchen neben dem Bett brannten Kerzen. Der Priester hielt die bläuliche und stille Hand des sterbenden Mädchens, und doch war mir, als ob sich die Decken noch unter leisen Atemzügen hoben. Ihr junger Ehemann kauerte neben ihr und barg den Kopf in den Bettlaken. Master John stand schwerfällig auf und reichte mir matt die große Hand.
    »Das da ist mein einziger Schatz«, sagte er schlicht. Niemand schien sich etwas aus meiner Ankunft zu machen; alle waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sanft schob ich die Männer vom Bett fort zur anderen Seite des großen Zimmers hin; dann schlug ich die Bettdecken zurück und tastete und untersuchte. Der Kopf war noch gar nicht geboren; der Muttermund schien sich nicht genügend geöffnet zu haben.
    »Schon wieder eine Wehmutter?« Der Ehemann hatte sich umgedreht und sah mir mit rotgeränderten Augen bei der Arbeit zu. »Ich habe genug von Wehmüttern und dem ganzen Gerede von Kindern. Wenn ich sie nie berührt hätte, dann wäre sie noch mein«, sagte er, als ihn der Priester am Ellenbogen fortzog.
    »Fügt Euch in Gottes Willen«, sagte dieser nicht eben unfreundlich.
    Noch einmal bedeutete ich ihnen, der Schicklichkeit halber fortzugehen, denn ich finde, es gehört sich nicht, daß Männer bei einer Geburt zugegen sind. Dann öffnete ich den Korb und legte die in feine Leinwand eingeschlagene Waffe aufs Bett.

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