Die Stimme
meine Hand. Ich zog vorsichtig, behutsam, und noch ein wenig kräftiger im Rhythmus mit einer Wehe. Und dann gab es statt einer Tragödie ein freudiges Ereignis, das mich stets aufs Neue an die Geburt unseres Heilands erinnert. An jenem Tag windelten wir ein lebendigs Kind, statt ein totes in ein Leichentuch zu schlagen. Bei unserer Heimkehr säuberte ich das wunderbare Instrument mit Bruder Malachis Weingeist, dann ölte ich es sorgfältig ein. Ich wollte nicht, daß sich je Rost auf seiner schimmernden Oberfläche festsetzte. Alsdann löste ich mein Versprechen ein.
»Sim«, rief ich, »geh zu John von Leicestershire und sag ihm, die kleine Wehmutter läßt ihm ausrichten, er hätte an diesem Tag zwei Leben gerettet.« Sim sauste mit einem Freudenschrei davon, denn er hatte es satt, in dem Zimmer der üblen Gerüche den Blasebalg zu bedienen.
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Am Abend von Epiphanias – die Gassen erstickten im Schnee, und auf dem festgetretenen Eismatsch der Straßen schlidderte man dahin – lag der ganze Haushalt hinter fest verschlossenen Fensterläden in tiefem Schlaf. Plötzlich donnerte es ganz fürchterlich an die Haustür. Ich hörte, wie Bruder Malachi aufstöhnte, als Mutter Hilde die Läden öffnete und den Kopf zum Fenster hinausstreckte.
»Ist das hier das Haus der Wehmütter? Weckt die kleine Wehmutter und sagt ihr, daß John von Leicestershire sie dringend braucht.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und zog mich so rasch an, daß ich kaum Zeit fand, mir ein Kopftuch über die Zöpfe zu binden, dann eilte ich nach unten. Zwei große, junge Männer standen vor der Tür, wo das erste Stockwerk auskragte, sie waren schwer bewaffnet und trugen Laternen. Der eine hielt zwei gute Pferde. Unter den halb geöffneten Umhängen schimmerten im Dämmerschein der Laterne ihre Helme und ihre Brustharnische. Ihr Atem kam beim Sprechen in kleinen Rauchwölkchen.
»Ihr seid also die kleine Wehmutter? John von Leicestershire braucht Euch ungesäumt und sehr dringend. Er sagt, Ihr sollt das Werkzeug gegen den Tod mitbringen, das er für Euch geschmiedet hat. Wir sind gekommen, um Euch zu seinem Haus zu bringen.«
»Ich komme, wie er es wünscht. Ich hole nur eben das Erforderliche.« Da stand mein Korb, der immer fertig gepackt war. Ich prüfte den Inhalt: Salben zum Massieren, Duftwässer zur Wiederbelebung, das kleine Kästchen mit dem unheimlichen, schwarzen Pulver, das die Wehen wieder in Gang oder Tod bringt, und ganz unten, in feine Leinwand geschlagen, John von Leicestershires mächtige Waffe.
Ich wickelte mich in meinen großen, warmen Umhang, den mir Lady Blanche überlassen hatte, und trat nach draußen zu den Gewappneten. In einem erkannte ich einen von John von Leicestershires Gesellen. Wer wäre wohl auch gut bewaffnet, wenn nicht ein Waffenschmied? Er hob mich mit einem einzigen Schwung auf das Sattelkissen des zweiten Pferdes. Er war ungeheuer stark, wie alle, die in der Schmiede arbeiten. Seine Miene war grimmig. Sein Kumpan stieg auf, und schon ging es aus der Gasse hinaus und Cornhill entlang, quer durch den dunklen und vereisten Cheap gen Aldersgate Street, so schnell das auf dem festgetretenen und glitschigen Schnee möglich war.
Mehrmals kamen die Pferde ins Stolpern, und ich klammerte mich fest an den Reiter vor mir. Das Tor von Aldersgate war zur Nacht fest verschlossen, doch Johns Berittene besaßen einen Passierschein vom Bürgermeister. Wir stiegen ab, und der zweite Reiter schlug an die Tür des Torwächters, daß er ihn aufweckte und er uns das Pförtchen in dem großen Tor öffnete, durch das man nur zu Fuß gehen kann. Während wir warteten, fragte ich den Mann, auf dessen Pferd ich mitgeritten war, worum es eigentlich ginge, denn ich wollte vor meiner Ankunft soviel wie möglich in Erfahrung bringen. Der Geselle blickte auf mich herunter, und die Muskeln an seinem Kinn zuckten und verkrampften sich.
»Mistress Wehmutter, John hat eine Tochter, die erst vergangenes Jahr verheiratet wurde und nun sein erstes Kindeskind trägt. Sie ist jetzt in seinem Haus, wohin sie kam, damit ihre Mutter ihr in ihrer schweren Stunde beistehen konnte. Sie liegt schon den ganzen gestrigen Tag und die Nacht davor in den Wehen. Die Wehmütter haben sie heute Abend aufgegeben, und der gelehrte, ausländische Arzt, den er rufen ließ, sagt, er könne nun auch nicht helfen. Der Priester hat ihr schon die letzte Ölung erteilt, doch irgendwie lebt sie immer noch. Und
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